Frankreich 2016
Schweiz-Albanien: Trotz der Niederlage wurde gemeinsam gefeiert
Samstagmorgen: Das Aufstehen fiel weder mir noch meinem Sohn leicht. Der sakrosankte Schlaf eines Samstagmorgens ist ein grosses Opfer, um von Lausanne nach Genf zu fahren und dann in den TGV zu springen, um beim heiss erwarteten Fussballspiel zwischen der Nati und Albanien in Lens dabei zu sein. Ich will nicht vergessen zu erwähnen, dass mein guter Sohn am Abend zuvor sorgfältig sein Leibchen der Kombëtare [alb. komb: nation, Kombëtare: Nationalmannschaft; Anm. der Red.] bereit gelegt hatte – das ich ihm, um ihm eine Freude zu machen, spät in der Nacht noch bügelte – assortiert vom Schal, den er von seiner Tante zum Geburtstag bekommen hatte; und nicht zu vergessen die grosse schwarzrote doppelköpfige Fahne, in die er sich buchstäblich einwickelte. Kurz, die komplette Ausrüstung! So bewegte er sich stolz in den Bahnhofshallen von Lausanne und Genf. Da er sehr grossgewachsen ist, war er nicht zu übersehen auf den Perrons. Und entging nicht den kroatischen Fans, die ihm empathisch „Hopp Schweiz“ zuriefen. Er antwortete mit einem strahlenden Lächeln.
Endlich sitzen wir im TGV nach Paris Gare de Lyon. Vor uns befanden sich vier Genfer, schräge Typen, Kumpels, angefressene Fans der Nati, die schon um 6 Uhr 30 in der Früh ihre Bierflaschen öffneten.
Zuvor hatte einer von ihnen, mit dem Rücken zu mir, in einer Morgenzeitung gelesen. Und der Zufall wollte es, dass sein Blick auf eine Seite fiel, auf welcher eine grosse Foto von mir war, gefolgt von einem Interview mit dem Titel: „Das Gewicht der Wurzeln der Herkunft schwindet“. Plötzlich Stress: Wenn er mir nun beim Lesen meine Äusserungen übel nehmen würde? Aber nein, im Gegenteil, er und seine Freunde teilten meine Überzeugung, dass die Diskussionen über den Balkangraben der Nati absurd und überflüssig sind. Uff, wir wurden Freunde. Und nun waren wir Gefährten auf einer Pilgerreise nach Lens, die kompliziert war bzw. ungewiss, wegen der vielen Streiks in den gallischen Landen.
Als wir aus dem Zug ausstiegen, bekamen wir die ganze Pracht zu sehen: Ganz Lens feierte in Rot, Schwarz und Weiss. Ich konnte meine Freude beim Anblick der mit weissen Kreuzen und Doppelkopfadlern geschmückten Stadt Lens unmöglich verbergen. Für einen Amateur in Fussballdingen wie mich war es eine surreale Szenerie. Überall befanden sich Fans, die mitten auf der Strasse tanzten, Lärm und Klänge aus allen Richtungen. Sie schienen sich nicht um die kräftigen Arme der omnipräsenten uniformierten Sicherheitspolizisten der CRS zu kümmern. Das Dekor stimmte. Und als Tüpfelchen aufs i: Das Wetter entschied sich fürs Fest und schenkte uns trotz schlechter Prognose einige Augenblicke Sonnenschein. Es war Ekstase, Glück pur.
Beim Eintritt ins Stadion herrschte eine eindrückliche, beinahe feierliche Stimmung. Es war unmöglich, sich von der Heiterkeit der aussergewöhnlich vielen Fans nicht anstecken zu lassen. Sie waren mehrheitlich albanisch, einige von ihnen waren auf langen und beschwerlichen Wegen, aus ganz Europa und dem Balkan hergekommen. Es gab ebenfalls viele Schweizer, im Wesentlichen aus der Schweiz angereist. Der Auftakt war wie eine Art grandiosen sakralen Aktes, vor allem im Moment der albanischen Nationalhymne, als eine gigantische albanische Flagge eine der Tribünen buchstäblich zudeckte.
Diese Anfangszeremonie erinnerte an eine römische Arena mit Gladiatoren. Eigentlich denke ich oft, dass dem Fussball auch diese Funktion, die Unterhaltung der Bürgerinnen und Bürger, zukommt. Immerhin mit dem offenkundigen Unterschied, dass an Cäsars Platz nun das Logo der UEFA prangt.
Der Match beginnt und nun wird es ernst. Nachdem die Nati sehr schnell ein Tor geschossen hatte, elektrisierte sich die Stimmung, die auf den albanischen Tribünen einen Augenblick lang verstummt war, schon schnell wieder: so wie die Stimmung nun mal ist an einem Fussballmatch mit grossen Erwartungen und der Hoffnung, zumindest ein Unentschieden zu erreichen. Mein Sohn seinerseits verlor sein Lächeln und die Tränen kamen ihm hoch. Ich versuchte ihn, so gut es ging, zu trösten. Auch ich, obwohl seit Jahren Anhänger der Nati, fühlte mich traurig für Albanien. Bestimmt waren wir viele, die dieses doppelte Gefühl durchlebten, und das ist natürlich.
Inzwischen hatte mich selbstverständlich auch meine Tochter, das jüngere unserer Kinder, unter Tränen angerufen: „Papa, wieso verliert Albanien?“ Ich sagte ihr: „Nein, Albanien gewinnt auch, denn du vergisst, dass viele Spieler die gleiche Herkunft wie wir haben und in der Schweizer Mannschaft spielen.“ Schweigen. Welches ich letztendlich als zuversichtliche Antwort interpretierte…
Nach dem Match ging die Menge in einer beinahe olympischen Ruhe auseinander. Die niedergeschlagenen, schweigsamen Gesichter der albanischen Fans kontrastierten mit der Freude der Schweizer Fans. Mittendrin gehörten wir zu jenen, die weiterhin die Symbole beider dieser Geschwisterländer zeigten, auch wenn wir nicht so recht wussten, wie wir das machen sollten. Die traditionelle orangefarbene Fairplay-Kultur von Lens mag die Atmosphäre etwas entspannt haben. Doch nichtsdestoweniger hat die Tatsache, dass die Nati soviele Spieler albanischer Herkunft zählt, sicher auch zur Besänftigung der albanischen Enttäuschung beigetragen, denn es kam nirgends zu Reibereien. Am Abend vereinten sich dann alle, Albaner und Schweizer, um sozusagen einvernehmlich gemeinsam den nächsten Match, England-Russland, zu verfolgen. Natürlich waren die meisten für England. Gegen Ende der Nacht sah man da und dort einige zusammen tanzen, betrunken und erschöpft vor Müdigkeit.
Dieser Artikel erschien in Le Temps, in Zusammenarbeit mit Albinfo.ch
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