Meinungen
Repressalie und Retorsion
Wenn eine Regierung eine Retorsionsmassnahme oder eine Repressalie beschliesst, muss sie den Massnahmen einen leicht verständlichen Wenn-Dann-Mechanismus unterlegen und diesen der Staatengemeinschaft in Europa in aller Klarheit notifizieren. Die Zollmassnahmen, die bereits angeordnet worden sind, hatten einen leicht verständlichen Wenn-Dann-Mechanismus (Wenn: keine Anerkennung des Kosovo und Schikanen; Dann: Zollzuschlag)
Wo die Beziehungen zwischen Staaten nicht einwandfrei funktionieren, kennt das Völkerrecht verschiedene Instrumente, um fehlerhafte Verhaltensweisen auszugleichen. Zwei davon sind die Repressalie und die Retorsion.
Als Repressalie bezeichnet man eine an sich völkerrechtswidrige Handlung, die ein Staat in Erwiderung eines gegen ihn begangenen völkerrechtlichen Deliktes vornimmt, um den deliktisch handelnden Staat zur Aufgabe des völkerrechtswidrigen Verhaltens oder zur Wiedergutmachung zu zwingen.
Die Retorsion ist ein unfreundlicher Akt, mit dem ein Staat auf einen unfreundlichen Akt oder ein völkerrechtswidriges Verhalten eines anderen Staates reagiert («Retourkutsche»). Anders als die Repressalie verstösst die Retorsion nicht gegen eine Norm des Völkerrechts, sondern allenfalls gegen ein Gebot der Courtoisie.
Der Anwendungsbereich der Retorsion geht infolge der zunehmenden Regelungsdichte im Völkerrecht zurück. Gerade die früher häufigen Retorsionen im Bereich der internationalen Wirtschaftsbeziehungen sind inzwischen durch völkerrechtliche Verträge (GATT; Supranationale Gemeinschaften; Zollunionen; Freihandelsabkommen; Handelsabkommen) verboten. Als typisches Beispiel für eine Retorsion gilt heute der Abbruch der diplomatischen Beziehungen oder die Nichtanerkennung fremder Hoheitsakte.
Das Mitteleuropäische Freihandelsabkommen (Central European Free Trade Agreement; CEFTA) ist ein Freihandelsabkommen zwischen Albanien, Bosnien und Herzegowina, der Republik Kosovo, Moldau, Montenegro, Nordmazedonien und Serbien. Es sieht eigentlich einen Handel ohne tarifäre Hindernisse vor. Nicht alle Mitgliedsstaaten des CEFTA pflegen mit der Republik Kosovo gutnachbarschaftliche Beziehungen; im Gegenteil, Schikanen sowohl im politischen Verkehr als auch im Wirtschaftsverkehr sind an der Tagesordnung. Die Regierung unter Ramush Haradinaj hat deshalb auf dem Import bestimmter Güter aus bestimmten Regionen (Serbien, Bosnien und Herzegowina) die Erhebung eines Zollzuschlags von 100% angeordnet. Je nach Betrachtungsweise ist die Massnahme als Repressalie oder Retorsion zu qualifizieren. Weil der Zollzuschlag mit dem CEFTA wohl kaum vereinbar ist, liegt wohl eher eine Repressalie vor. Die von den Massnahmen betroffenen Staaten sind Opfer ihrer eigenen Negierungspolitik geworden. Solange sie die Republik Kosovo nicht anerkennen, werden sie Schwierigkeiten haben, die von der früheren Regierung angeordneten Massnahmen vor internationalen Gremien effizient zu kritisieren.
Wenn eine Regierung eine Retorsionsmassnahme oder eine Repressalie beschliesst, muss sie den Massnahmen einen leicht verständlichen Wenn-Dann-Mechanismus unterlegen und diesen der Staatengemeinschaft in Europa in aller Klarheit notifizieren. Die Zollmassnahmen, die bereits angeordnet worden sind, hatten einen leicht verständlichen Wenn-Dann-Mechanismus (Wenn: keine Anerkennung des Kosovo und Schikanen; Dann: Zollzuschlag).
Eine Retorsionsmassnahme oder eine Repressalie ist im Rahmen der völkerrechtlichen Lageanalyse immer unter zwei Gesichtspunkten zu beurteilen: unter der rechtlichen und unter der politischen Ebene. Bei der rechtlichen Analyse muss die Regierung einwandfrei abklären, ob die zu treffenden Massnahmen eine Norm des Völkerrechts oder bloss eine Regel der Courtoisie verletzt und die Rechtfertigungsgründe klar aufzeigen. Das ist die Arbeit der Juristen. Bei der politischen Analyse muss die Regierung die vorliegenden Nachteile aufzählen und analysieren. Sie muss vorbringen, dass die Republik Kosovo tatsächlich Nachteile erleidet und deshalb unter dem politischen Blickwinkel die Gegenmassnahme als gerechtfertigt oder zumindest verständlich erscheint.
In der Republik Kosovo wurde die Regierung von Ramush Haradinaj durch die neue Regierung von Albin Kurti abgelöst. Es gehört zu den Aufgaben der neuen Regierung, zu prüfen, welche Positionen sie im internationalen Kontext einnehmen will. Da die Massnahmen aber in Kraft gesetzt sind und für die Regierung kein Zeitdruck besteht, brauchen Neuerungen nicht unter Zeitdruck erarbeitet zu werden. Wenn das bereits angeordnete Massnahmen-System überarbeitet werden sollte, dann ist zu empfehlen, dass die neue Doktrin auf der internationalen Ebene klar kommuniziert wird und einen leicht verständlichen Wenn-Dann-Mechanismus aufweist. Es ist eine alte Weisheit der Aussenpolitik, dass Aussenpolitik immer Innenpolitik ist, weil die Bürger eines Landes immer von der Aussenpolitik in ihrem Wohl betroffen werden. Zugleich ist aber Aussenpolitik immer auch der Tanz auf dem internationalen Parkett und das internationale Parkett hat immer eine Reflexwirkung auf das Wohlergehen des Landes.
Jeder, der sich mit Völkerrecht befasst, weiss das spätestens seit der Ihlen-Deklaration von 1919. Obwohl Norwegen Teile von Grönland okkupierte, erklärte der norwegische Aussenminister Ihlen, dass gegenüber dem Anspruch Dänemarks über die Souveränität Grönlands von Norwegen keine Schwierigkeiten zu erwarten seien. In der Folge musste sich der internationale Gerichtshof mit der Frage befassen, ob die Ihlen-Deklaration für Norwegen bindend sei. In ihrer jungen Geschichte hat sich die Republik Kosovo keine solchen Blössen in der Aussenpolitik gegeben. Wir sind optimistisch, dass unter der neuen Regierung die internationale Politik mit Augenmass betrieben wird, in völkerrechtlicher und in politischer Hinsicht.
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