Integration
Exodus der Kosovaren: Was Albaner aus der Schweiz dazu meinen
Es äussern ihre Meinung Ylfete Fanaj, Luzerner Kantonsrätin, Hilmi Gashi, Gewerkschaftssekretär der UNIA, und Hamit Zeqiri, Präsident der Schweizerischen Konferenz der Fachstellen für Integration KOFI.
In den letzten Wochen und Monaten wurde Kosova zu einer Bühne der Migration. Zehntausende Bewohner machten sich auf den Weg, ohne Orientierung oder eine Ahnung wohin, mit dem einzigen Ziel: Soweit wie nur möglich weg von Kosova! Der Hauptgrund dafür ist die grosse Enttäuschung über die wirtschaftliche und politische Lage in Kosova; doch lässt sich damit dieser gewaltige “Wille” zum Weggehen erklären? Und wie sehen Albanerinnen und Albaner der Schweiz, die in einer früheren Phase und unter Umständen, die sich sehr von den heutigen unterscheiden, ebenfalls “weggegangen” waren, dieses Phänomen?
albinfo.ch fragte drei albanische, im sozialen und politischen Leben der Schweiz aktive Persönlichkeiten: Ylfete Fanaj, Luzerner Kantonsrätin, Hilmi Gashi, Gewerkschaftssekretär, und Hamit Zeqiri, Präsident der Schweizerischen Konferenz der Fachstellen für Integration (Kofi).
Ylfete Fanaj: Es sind die Schwächsten, die für das Scheitern der politischen Klasse zahlen
Ylfete Fanaj meint, entscheidend gewesen für den Exodus sei die verlorene Hoffnung der Bevölkerung auf Verbesserung. “Fünfzehn Jahre nach Ende des Krieges und sieben Jahre nach der Unabhängigkeit haben die Leute in Kosovo alle Hoffnung aufgegeben. Sie sehen keine Perspektive mehr in ihrem Land. Es ist verständlich, dass die Menschen nach Chancen und Möglichkeiten für ein besseres Leben suchen”, sagt Fanaj.
Doch habe die mehrere Monate andauernde Blockade beim Aufbau der staatlichen Institutionen diesen Zustand noch weiter erschwert. “Die politische Blockade nach den letztjährigen Wahlen verschlechterte die Situation noch mehr. Die Menschen erlebten noch einmal, dass Politik in Kosovo nicht zum Wohl der Menschen, sondern zu jenem bestimmter Politiker, derer Parteien und Familien gemacht wird. Die politische Klasse ist gescheitert, den Preis dafür zahlen die Schwächsten der Gesellschaft”, schliesst Ylfete Fanaj.
Auch Hilmi Gashi, Gewerkschaftssekretär und bekannter Aktivist der albanischen Gemeinschaft, sieht die Gründe für den Exodus in der verlorenen Hoffnung. Seiner Meinung nach übten sich die Leute sogar zu lange in Geduld und Selbstbeherrschung gegenüber den Politikern.
Hilmi Gashi: Die Zeit, zu Geduld aufzurufen, ist vorbei, jetzt muss konkret gehandelt werden
“Mich berührt sehr, was ich sehe. Fünfzehn Jahre nach der Befreiung verlassen die Menschen Kosova von Neuem. Den Grund sehe ich in der fehlenden Hoffnung auf eine Zukunft für sich und die eigenen Kinder. Unser Volk bewies viel Geduld mit unseren Regierungen und Politikern. Diese erwiesen sich nicht als politische Führer, die das Volk hätten überzeugen können. Es fehlten Ideen für die vielen Aufgaben, unter anderem die Aufgabe, eine Lebensperspektive zu bieten, für Beschäftigungsprogramme in Zusammenarbeit mit einheimischen und ausländischen Investoren etc.”
Doch haben wir es nicht auch mit einer Dosis Hysterie und Unkenntnis der Verhältnisse in Europa auf Seiten jener, die weggehen, zu tun? “Es ist nicht auszuschliessen, dass es auch Hysterie und Falschinformation gab. Es gibt Leute, die diese Lage zum eigenen Profit ausnützen. Doch wenn wir uns nur mit den Tatsachen beschäftigen, ohne die Gründe des Weggehens anzuschauen, so bewegen wir uns nur an der Oberfläche des Problems.
Ich glaube nicht, dass unsere Regierung die Menschen einzig mit Appellen und Grenzblockaden dazu bringen kann, das Land nicht zu verlassen. Die Leute wollen eine Perspektive. Die Zeit für Aufrufe zur Geduld ist vorbei”, fügt Gashi an.
Und fährt fort: “Auch die Zeit, wo unsere Regierungsleute die ganze Schuld für das Nichtfunktionieren von Staat und Behörden den Internationalen oder der Tatsache, dass wir kein Staat sind, in die Schuhe schoben, ist vorbei. Jetzt sind wir ein unabhängiger Staat. Doch inzwischen, scheint es mir, nehmen sich unsere Regierungsleute und Landespolitiker nicht einmal mehr die Mühe, das Scheitern ihrer Politik zu rechtfertigen. Und in der so entstandenen Atmosphäre bleibt den Menschen, wie wir sehen, nichts anderes übrig, als ihr Glück auf den Strassen Europas zu suchen.”
Doch trotzdem gibt es laut Gashi noch Hoffnung. Er erwartet, dass die Regierung schlussendlich die nötigen Schritte unternehmen werde, damit die Hoffnung zurückkehre. “Jetzt muss die Regierung von Kosova zeigen, dass sie fähig und willens ist, sich ernsthaft um die Sorgen der Bevölkerung zu kümmern. Sie muss in einen sozialen Dialog mit der Zivilgesellschaft treten. Sie soll eine Taskforce bilden, zusammengesetzt aus Fachleuten, Politikerinnen und Unternehmern, die die Lage analysieren und Ideen und Vorschläge machen, wie aus der Krise herauszukommen ist.
Erst wenn die Leute sehen, dass etwas Konkretes geschieht, dann glaube ich wird das Vertrauen in die staatlichen Institutionen zurückkehren. Unsere Bürgerinnen und Bürger lieben Kosova. Weggehen ist für niemanden leicht”, schliesst Hilmi Gashi.
Hamit Zeqiri: Unsere Politiker entwerteten sogar die Idee des Rechtsstaates
Auch für Hamit Zeqiri, den Präsidenten der Schweizerischen Konferenz der Fachstellen für Integration (Kofi), sind die Ursachen des jüngsten Exodus eher komplex. Doch der gemeinsame Nenner ist “der totale Verlust des Vertrauens in die politischen Strukturen”.
“Zum Exodus der letzten Wochen in Kosova kam es vor allem wegen der Armut und der mangelnden Perspektive, aber auch aus anderen Gründen wie dem totalen Verlust des Vertrauens in die politischen Strukturen. Migration kennen auch einige Länder der Europäischen Union. Doch die Art, wie dieser Exodus in Kosova geschieht, und seine Ausmasse, geben einem sehr zu denken und sind schmerzhaft. Die Frage ist vielmehr, wie es denn zu dieser Armut und Perspektivlosigkeit gekommen ist? Wenn wir uns vor Augen halten, dass der Krieg in Kosova vor fünfzehn Jahren zu Ende ging und es leben so viele Leute in äusserster Armut in einem Land, das geografisch zu Europa gehört, dann müssen wir Albaner uns in erster Linie selbst fragen: Was hat denn nicht funktioniert, welches sind die wirklichen Ursachen dieses Exodus?” fragt Zeqiri. Auf der einen Seite hätten die Leute sehr lange gewartet und sehr schwere Armut ertragen, während zur gleichen Zeit ein grosser Teil der politischen Führer all jener Parteien, die ein wenig am Kelch der Macht genippt hatten, sich auf extreme Weise mit dem Geld des Volkes bereicherte. “Auf der einen Seite haben wir eine extreme Armut eines beträchtlichen Teils der Bevölkerung und auf der anderen Seite eine erschreckende Bereicherung von Politikern auf dem Rücken des Volkes. Das geht nicht!
Für diese Situation sind in erster Linie wir Albaner verantwortlich. Anstatt dass sich ‘unsere’ Politiker für die Stärkung des Rechtsstaates und das Herbeiholen von Investoren engagieren, kümmern sie sich hauptsächlich um ihre persönliche Bereicherung durch Diebstahl an der Bevölkerung. Mit ihrem kriminellen Verhalten (ich kann es nicht anders nennen) entwerteten sie den Rechtsstaat und hielten jene wenigen potentiellen Investoren fern, die in Kosovo möglicherweise Arbeitsplätze geschaffen hätten.”
“Auch für diese Migrationsherausforderung wird sich eine Lösung finden. Ich bin sicher, dass es den Menschen gelingen wird, das Wertesystem zu ändern, so dass ein grosser Teil der Bevölkerung arbeiten und sich ernsthaft für die Gesellschaft, die Familie und sich selbst einsetzen wird. Ich hoffe sehr, dass das Ende dieser Erpresser schnell kommt und sie sich für ihre Verbrechen verantworten müssen. Was diese Sorte von Politikern macht, ist, wie wenn du jemandem versprichst, ihm gratis ein Haus auf seinem Land zu bauen und danach nimmst du ihm das Haus mit samt Land weg. Vielen Menschen in Kosovo ist alles geraubt worden, was sie hatten, bis hin zu ihrer Würde. Dafür sollen diese Diebe irgendwann einmal geradestehen müssen. Die politischen Parteien müssen von den neuen Generationen zu Reformen gezwungen werden. Diese Bastarde haben Kosovo ernsthaft in Gefahr gebracht. Die Geduld der Bevölkerung hat Grenzen. Wer das unterschätzt, könnte einen teuren Preis zahlen.”
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