CH-Balkan
“Die Albaner sollten aufhören, nationale und religiöse Werte zu misssbrauchen”
In einem Exklusivinterview für albinfo.ch spricht Arsim Zekolli über die jüngsten Ereignisse in Makedonien nach einem Vorfall, der sich gestern an der Grenze zwischen Makedonien und Kosova ereignete und bei welchem eine bewaffnete Gruppe einen Grenzpolizeiposten angriff. Zudem äussert er sich über die politische Krise, die Stellung der albanischen Parteien sowie andere aktuelle Themen.
Albinfo.ch: Wie beurteilen Sie die jüngsten Ereignisse in Makedonien, wo nun nach einem Vorfall im Grenzgebiet Makedonien-Kosovo Fragen der Sicherheitslage die tiefe politische Krise an Aktualität zu überbieten versuchen. Was geschieht wirklich, angesichts der vielen widersprüchlichen Nachrichten, die wir erhalten?
Zekolli: Auf den ersten Blick ist es Teil des Szenarios zur Ablenkung von der tiefen Staats- und politischen Krise, die das Land seit Bekanntwerden der Informationen über die Lauschangriffe, die jetzt von der makedonischen Opposition LSDM (Makedonische Sozialdemokratische Union) veröffentlicht werden, erfasste. Der gestrige Vorfall sollte die Aufmerksamkeit von den Skandalen der Regierung Gruevski-Ahmeti ablenken und eine Atmosphäre aufbauen, in der es um die Bedrohung der Sicherheitslage und der staatlichen Stabilität geht, als Vorwand für die Verhängung des Ausnahmezustands und anschliessend eines künftigen Verbotes der Verbreitung von kompromittierenden Nachrichten. Tatsächlich ist dies nur einer von mehreren Versuchen aus Kreisen der Geheimdienste zur Inszenierung von Spannungen, die bis anhin mittels falschen UÇK-Communiqués mit gefälschten Unterschriften erzeugt wurden. Diese Hartnäckigkeit veranlasst mich zur Befürchtung, dass die von der VMRO-DPMNE (Innere Mazedonische Revolutionäre Organisation – Demokratische Partei für Mazedonische Nationale Einheit) und der BDI (Bashkimi demokratik për integrim, dt. Demokratischer Zusammenschluss für die Integration) inszenierten Vorfälle weiter anhalten werden.
Das Erstaunliche im Zusammenhang mit diesem Vorfall war die Reaktion der BDI, die parallel zu jener des Innenministeriums erfolgte und eine vielsagende Schlussfolgerung beinhaltet, die Anlass zu Skepsis gibt. In besagter Reaktion der BDI heisst es unter anderem, “wir fordern die Intensivierung der regionalen Zusammenarbeit, zur Sicherung der Stabilität und Einengung des Handlungsspielraums von Gruppen”, was indirekt über den regionalen Aspekt darauf anspielt, dass die betreffenden Gruppen aus der Nachbarschaft seien, im konkreten Fall aus Kosova. Interessanterweise stimmt dies mit der Beurteilung des makedonischen Innenministeriums betreffend die Infiltration von Gruppen aus Kosova überein, was sowohl von den Behörden in Prishtina wie auch von den dortigen NATO-Truppen sogleich dementiert wurde.
Diese Koordination in den Haltungen scheint nicht zufällig zu sein, sondern eine Strategie teuflischster Art, die zwei Zwecken dient – einem staatlichen und einem persönlich-politischen. Der staatliche Zweck hängt damit zusammen, dass eine Destabilisierung Makedoniens unter den gegebenen Bedingungen, nach welchen alle Nachbarstaaten NATO-Mitglieder sind, keine Beunruhigung der westlichen Entscheidungszentren erzwingen kann. Denn Makedonien kann in einer derartigen Situation lediglich implodieren, nicht aber explodieren und die Nachbarschaft in einen Konflikt hineinziehen. Die Verwicklung Kosovas als von der makedonischen Politik traditionell verhasster Faktor sollte diese Konnotation der Internationalisierung der Krise und der Einigung der Makedonier zur Verteidigung gegen den „ausländischen Staatsterrorismus“ herstellen.
Der zweite Grund, der persönlich-politische, steht im Zusammenhang mit der Tätigkeit des Sondergerichts in Kosovo, die Ali Ahmeti, Musa Xhaferi und einige Persönlichkeiten aus der Führung der BDI wegen Verdachts auf verschiedene Missbräuche während und nach dem Krieg in Kosovo involvieren könnte.
Auf ein verstärktes Bewusstsein der Bevölkerung lassen die medialen Appelle hoffen, die an die Bürgerinnen und Bürger von Likova, Kumanova, Shkup gerichtet waren, sich nicht provozieren zu lassen, und die forderten, dass die ironisch so genannte „Befreiungsarmee von Kërçova“ wenn schon dann irgendeine Schlacht in Zajaz anzetteln solle und nicht in jener Region, die 2001 am meisten gelitten hatte, nämlich jene von Kumanova und Skopje.
Albinfo.ch: Wie beurteilen Sie die verstärkte politische Krise und die Tatsache, dass es keine ernsthaften Anzeichen zu einer Überwindung derselben gibt? Was wäre ein realistischer Lösungsweg, um hinsichtlich einer politischen und juristischen Lösung in der Abhöraffäre und den anderen Prozessen zu einem positiven Epilog zu kommen?
Zekolli: Ich bezweifle, dass eine solche Lösung im Augenblick möglich ist, weil mehrere Systeme, die sich mit der Lösung der Situation befassen müssten, kollabiert sind. Wir haben es mit einer Krise von völlig abgewerteten Institutionen zu tun, welchen kein Mensch vertraut. Es ist eine politische Krise, wegen der vollständigen Erosion der Demokratie. Es ist eine wirtschaftliche Krise, wegen der schwindelerregenden Ausgaben der Regierung. Es ist eine Krise des Vertrauens gegenüber dem internationalen Faktor, wegen der Unterstützung von völlig kriminalisierten und korrumpierten Parteien. Und, zu guter Letzt, haben wir es mit einer Krise der Identitäten zu tun, die anfänglich die Makedonier belastete, sich jedoch nun auch bei den Albanern ereignet, wegen religiösen Einflüssen.
So zeigt uns der jetzige Zustand das allmähliche Ende eines degenerierten Systems, das in Makedonien herrschte und herrscht, schon seit der Unabhängigkeit, konstruiert exklusiv zu Gunsten der makedonischen Parteien und ihren Partnern von den servilen sogenannt albanischen politischen Parteien.
Albinfo.ch: Wie sehen Sie die Rolle der albanischen Parteien in dieser Entwicklung, vor allem jene der BDI, die Teil der Regierungskoalition ist? Denken Sie, dass wir es mit einem Prozess der Abwertung ihrer Rolle als politischem Faktor, einem Prozess ihres Ausschlusses zu tun haben, in Anbetracht dessen, dass sie an den Gesprächen in Brüssel, die nur zwischen den beiden makedonischen Parteien stattfinden, nicht anwesend sind?
Zekolli: Die albanische Partei am Ruder ist in der jetzigen Phase gänzlich ein Instrument der makedonischen Politik, entsprechend dem Projekt der Akademie der Wissenschaften und Künste Makedoniens, die inzwischen auch durch albanisches Personal verstärkt wurde, gemäss dem zur Teilung des Landes ausgearbeiteten Plan nach der Idee „jenseits der Grenze in Grupçin“. Diese aufgezwungene Ideologie der Trennung, die noch aus der Zeit des Kommunismus stammt, entwickelten die Makedonier in jenem Geist, der besagt: „Die einheimischen Albaner sind gut (das bezieht sich auf jene von Tetova, Gostivar, Kërçovë), doch die Zuzügler aus Albanien und Kosova sind unzivilisiert und feindlich (was sich auf Dibër, Struga, Kumanova und Shkup bezieht).“ Nach diesen Aspirationen sollten Tetova, Gostivar, Kërçova und Dibër in gewissem Mass von Makedonien getrennt werden, während Skopje, Kumanova und Struga auf der anderen Seite der Grenze verbleiben würden. Die Absicht ist klar, wenn wir uns das totale Ausbleiben von Investitionen in Skopje, Kumanova und Struga mit dem Segen der BDI und der PDSH (Albanische Demokratische Partei) vergegenwärtigen; die Auslöschung der albanischen Geschichte in Skopje mit dem Projekt Skopje 2014, mit dem Einverständnis der BDI und der PDSH, die systematische Sabotage, die die Albaner in diesen Orten von der makedonischen Seite und deren treuen Dienern aus der BDI und der PDSH erfahren; die traditionell schlechte Vertretung des albanischen Bevölkerungsteils in der Verwaltung der drei genannten Städte, im Unterschied zu jenen aus den Gebieten jenseits von Grupçin, wie es den Präferenzen der BDI und der PDSH entspricht; dass, auf Insistieren der BDI und der PDSH, Skopje und Kumanova durch die westliche Diplomatie hartnäckig ignoriert werden; die Versuche von den makedonischen und serbischen Informationsdiensten nahestehenden albanischen Kreisen, die Shkupianer und Kumanovaren als radikale Fundamentalisten darzustellen, und parallel dazu mit der orthodoxen Herkunft einer Handvoll Albaner aus Reka e Epërme Propaganda zu betreiben, was die Reaktionen des westlichen Faktors mildern sollte etc.
Deshalb stellt die fehlende Präsenz der BDI an den Gesprächen in Brüssel keinerlei Handicap für die Albaner dar, denn auch wenn sie dabei wäre, würde das nichts ändern. Ganz einfach deshalb, weil sie nicht handelndes Subjekt ist, sondern ein Manipulationsinstrument, das von der VMRO-DPMNE herumdiktiert und gelenkt wird. Im Falle eines Regierungswechsels würde dies hingegen die LSDM tun, die die BDI als „gute, folgsame und den makedonischen Interessen entsprechende Albaner“ erben würde.
Aber diese Gespräche sind wichtig, denn sie zeigen die Beharrlichkeit, mit welcher die makedonischen Parteien die parteienmässige und personelle Vertretung in der Regierung zu verändern suchen, dies jedoch unter Beibehaltung der politischen Kontinuität. Es sei daran erinnert, dass bei den letzten nationalen Wahlen die VMRO-DPMNE und die LSDM sich auf eine ethnische Koalition in Struga und Kërçovë einigten, mit dem Einverständnis des damaligen Parteiführers Branko Crvenkovski. Nun machen Zoan Zaev und Frau Shekerinska das Gleiche, aber auf staatlicher Ebene, und akzeptieren monoethnische Gespräche, wodurch Nichtmakedonier und Albaner ignoriert werden. Nehmen wir noch Zaevs Erklärung hinzu, mit welcher er Ali Ahmeti amnestiert, während Fërçkovski dies gleich für die BDI als Ganzes tut, dann braucht es nicht mehr viel, um zu verstehen, dass die Makedonier für sich Veränderungen wünschen, jedoch Kontinuität im Umgang mit den Albanern.
Albinfo: Brauchen die Albaner angesichts all dieser Entwicklungen eine dichtbesetzte Agenda, um die Verwirklichung jener Rechte voranzubringen , die schon seit langem einer Lösung harren, wie der Frage des Gebrauchs der eigenen Sprache, der nationalen Symbole, oder auch anderer Forderungen, die eine deutlichere Gleichberechtigung der Albaner schaffen würden?
Zekolli: Der Handlungsspielraum wird immer enger, doch besteht noch Hoffnung. Tatsache ist, dass die (albanisch-)national orientierte Politik durch Verbrechen und Korruption diskreditiert ist. Die Albaner Makedoniens sind nicht weniger national eingestellt als die anderen, doch enttäuscht von den Vertretern, die sich als exklusive Patrioten darstellen, und wegen des Hasses diesen gegenüber sind sie nun dazu übergegangen, auch der nationalen Politik nicht mehr zu vertrauen, und wenden sich deshalb der Religion zu. Diese wird ihrerseits zur nächsten Enttäuschung werden, wenn wir uns vergegenwärtigen, dass es auch da um menschliche Profile der gleichen Art, mit Hintergedanken und zweifelhaften Motiven geht. Solche Personen versuchen sich uns unter dem Deckmantel des Islams als Alternative aufzudrängen, obwohl sie keinesfalls eine Alternative darstellen. Zumindest keine albanische.
Wenn bezüglich nationaler und ethischer Werte eine so massive Demoralisierung herrscht, bleibt als einziger Weg, die missbrauchten patriotischen und religiösen Werte durch universale bürgerliche, zivilisationsfördernde und gesellschaftliche Werte zu ersetzen. Die überall für jedes Individuum, Volk oder jede Gesellschaft gleichermassen gültig sind – Verantwortung in Recht und Steuerwesen, Kampf gegen Verbrechen und Korruption, Pflege der Meinungsäusserungs- und Diskussionsfreiheit, etc.
Demzufolge sollten die Albaner für staatsbürgerliche Konzepte eintreten – nicht solche der makedonischen Art, mit welchen über Jahrzehnte Missbrauch betrieben worden war – und eine politische Vertretung aufbauen, die in erster Linie für das Individuum, den albanischen Bürger, da ist, und nicht eine nebulöse Vertretung des Kollektivs, die sich als unendliches Feld für Manipulationen und Missbräuche erwiesen hat. In diesem Sinne erachte ich es als angebracht, auch die jungen albanischen Akademikerinnen und Berufsleute in der Schweiz, Deutschland, Holland, Belgien, Frankreich aufzurufen, ihr Heimatland zu unterstützen – nicht finanziell, sondern indem sie ihre Stimme erheben, mit Studien, Analysen, Informationen über unsere Lage, unsere Rechte und unsere Interessen. Und dass sie der Manipulation und dem Missbrauch auf dem Rücken der Diaspora durch Individuen, die im Namen des Schutzes und der Interessen der emigrierten Bevölkerung es darauf abgesehen haben, eine politische Karriere im Inland aufzubauen oder fremden Angelegenheiten zu dienen, ein Ende bereiten mögen. Es finden offensichtliche qualitative Veränderungen in den Generationen in der Emigration statt. Im Unterschied zu den andern, die in der Heimat eine Möglichkeit zu schneller Bereicherung durch den Einstieg in die Politik erblicken.
Interview: Naser Pajaziti
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