Kosova
Kosovarische Therapeutin: Der Ukraine-Krieg weckt erneut Kriegstrauma in Kosovo
Als 18jährige erlebte sie 1998 den Krieg in ihrer Heimat und kam als Flüchtling in die Schweiz. Heute ist Xhevahire Balaj Trauma Therapeutin in Kosovo.
„Wir haben als Gesellschaft das Kriegstrauma des Kosovo-Krieges noch nicht bewältigt“, ist die Psychologin Xhevahire Balaj überzeugt. Als 18jährige erlebte sie 1998 den Krieg in ihrer Heimat und kam als Flüchtling in die Schweiz. Heute ist sie Trauma Therapeutin in Kosovo. „Wer Krieg erlebt hat, weiss, wie wichtig und wie kostbar Frieden ist“, sagt sie in einem Gespräch in Pristina kurz nach dem Kriegsausbruch in der Ukraine, „aber leider ist die Realität eine andere.“
Die Nachricht vom Einmarsch der russischen Armee in der Ukraine am 24. Februar 2022 hat bei Xhevahire Balaj heftige Gefühle ausgelöst. „Ich spüre starkes Mitgefühl mit den Menschen in der Ukraine, ich kann nachempfinden, was diese Menschen durchmachen, die wir auf Fernsehbildern und Fotos sehen, auf der Flucht, in Unterständen und inmitten von zerstörten Häusern. Dies alles schwemmte aber bei mir – und wohl bei den meisten Menschen, die Krieg erlebten – auch traumatische Erinnerungen an die eigenen Kriegserlebnisse hoch, es sind die gleichen Bilder, die wir jetzt sehen.“ Sie stelle fest, dass viele von ihren Patientinnen und Patienten sehr verängstigt und retraumatisiert auf die Kriegsnachrichten aus der Ukraine reagierten. Sie selbst schütze sich vor einer Überflutung durch die Kriegsberichterstattung, die ja viel umfassender sei als während des Kosovo-Krieges, als es noch nicht all die neuen Kommunikationsmittel gab, sie schaue nur wenige Nachrichten. Und sie rät auch ihren Patientinnen, bewusst zu wählen, welche Nachrichten sie schauen und lesen wollen und wie viel sie ertragen. Ganz wichtig sei auch, dass die Erwachsenen gegenüber Kindern aufmerksam seien, ihnen zuhörten, mit ihnen sprechen und sie nicht unbesehen den Kriegsbildern auf Handys und am Fernsehen aussetzten.
Krieg und Flucht in die Schweiz
Xhevahire ist mit acht Geschwistern in einem Dorf im Osten von Kosovo aufgewachsen, wo bereits 1998 – eine Jahr vor der NATO-Intervention – Krieg herrschte. Der 29.Mai 1998 bleibt in ihrem Gedächtnis für immer haften: An diesem Tag beschoss das serbische Militär ihr Dorf, und während Xhevahire und eine ihrer Schwestern zu verwundeten Nachbarn gerufen wurden, um zu helfen, wurde ihre Mutter von Schüssen so schwer verletzt, dass sie noch am gleichen Tag starb. In der darauffolgenden Nacht flüchtete die Familie Balaj mit der ganzen Dorfbevölkerung in die Berge, von Dorf zu Dorf über viele Stationen, an die sie nur noch verschwommene Erinnerungen hat, und schliesslich überquerten sie die Grenze nach Albanien.
Vater Balaj wollte mit den älteren Geschwistern in der Nähe der Grenze zu Kosovo das Kriegsende abwarten, um danach so schnell wie möglich nach Hause zurückzukehren. Aber die zwei Jüngsten der Familie, Xhevahire und ihr zwei Jahre jüngerer Bruder, sollten versuchen, die Schweiz zu erreichen, wo bereits zwei Brüder lebten. Mit Schleppern gelangten die beiden Jugendlichen mit anderen Flüchtlingen über das Mittelmeer nach Italien und weiter per Auto in die Schweiz.
An den Aufenthalt im Erstaufnahmezentrum in Basel erinnert sich Xhevahire ungern. „Um das Zentrum herum patrouillierten Securitas-Männer mit Hunden, und in ihren Uniformen erinnerten sie mich an die serbische Polizei unter der wir jahrelang gelitten hatten. Ich hatte grosse Angst. Im Zentrum war alles fremd für mich, die medizinische Untersuchung am ersten Tag, dann die grossen Schlafräume, die wir mit so vielen unbekannten Menschen aus der ganzen Welt teilten, das lange Anstehen fürs Essen, welches so anders war als die Speisen, die ich kannte.“
Nach einiger Zeit erreichten ihre Brüder, dass die Geschwister bei ihnen wohnen konnten, Xhevahire beim Bruder in Bern, ihr jüngerer Bruder bei jenem in Münchenbuchsee. „Tagsüber war ich allein im Studio meines Bruders, der arbeitete“, erzählt sie. „Es war schlimm für mich, nichts tun zu können, nicht in die Schule zu gehen, keine Kontakte zu haben. Ich versuchte mit Hilfe des Fernsehens ein wenig Deutsch zu lernen, aber es war schwierig. Mit meinem Vater und den Geschwistern, die in Deutschland Unterschlupf gefunden hatten, als der Krieg weiter andauerte, konnte ich nur alle zwei, drei Wochen telefonieren, denn dies kostete damals viel. Einmal pro Monat konnte ich auf dem Sozialamt Geld abholen, aber dort fühlte ich mich wie eine Nummer, nicht wie ein Mensch. Die Beamtin fragte nicht ein einziges Mal, wie es mir gehe.“
Es waren für die junge Xhevahire lange Monate der Isolation und der Trauer um ihre verstorbene Mutter und um die verlorene Heimat. Besser ging es ihr, als sie nach fast einem Jahr während einem halben Jahr einen Kurs für asylsuchende Jugendliche besuchen konnte, wo sie Deutsch lernte und andere Aktivitäten stattfanden. Sie hatte das Glück, nach Ablauf der sechs Monate weitere drei Monate als Assistentin im darauffolgenden Kurs mitmachen zu können.
Rückkehr nach Kosovo
Im Sommer 2000, ein Jahr nach Kriegsende, meldete sie sich für die freiwillige Rückkehr nach Kosovo. Bei der Rückkehrberatung von Caritas lernte ich Xhevahire Balaj zufällig kennen. Ich holte dort die Löhne für die Angestellten des Büros in Pristina ab. Da es noch keine Bankverbindungen gab im kriegsversehrten Land, brachte ich das Bargeld nach Pristina, weil ich für meine Arbeit als Journalistin öfters dorthin reiste.
Xhevahire traf ich erst etwa ein Jahr später wieder, als sie im Herbst 2001 an der Universität Pristina Psychologie studierte. Sie war aus der Schweiz zunächst in ihr Dorf in der Region Dukagjini zurückgekehrt, wo ihr Vater und die Geschwister alle in einem notdürftig eingerichteten Raum neben dem zerstörten Wohnhaus lebten. Der Neuanfang war schwierig für alle, und Xhevahire litt wieder darunter, dass sie weder arbeiten noch studieren konnte. Doch nach einem Jahr konnte sie dank der Unterstützung durch einen Hilfsvereins aus der Schweiz das Psychologiestudium beginnen. Es war der erste Lehrgang dieses Faches an der Universität Pristina, die nach dem Abzug der serbischen Administration nach Kriegsende langsam wieder eingerichtet wurde.
„Ich hatte vor dem Krieg den festen Wunsch, Medizin zu studieren, aber die Kriegserlebnisse haben mich und meine Wünsche verändert, jetzt wollte ich mich lieber um die psychische Gesundheit der Menschen kümmern“, erklärt Xhevahire ihre Berufswahl. Es waren keine einfachen Studienjahre, in Kosovo musste alles wieder neu aufgebaut werden, die ganze Infrastruktur, die Ämter und Institutionen, die seit Aufhebung der Autonomie von Kosovo im Jahr 1989 bis zum Kriegsende 1999 mehrheitlich von serbischen Angestellten besetzt gewesen waren. Es fehlte an so vielem, an Waren, an Strom und an Wasser. Die StudentInnen froren im Studentenhaus und in den Lehrsälen, das Essen in der Mensa war kümmerlich. Aber Xhevahire biss sich durch, ihre Motivation war stark, und sie wollte auch ihren Unterstützerinnen aus der Schweiz beweisen, dass sich der Einsatz lohnte. Bereits während des Masterstudiums begann sie in der Nicht-Regierungsorganisation „Children for tomorrow“ in Gjakova zu arbeiten, wo traumatisierte Kinder und Jugendliche Unterstützung fanden. Nach sechs Jahren übernahm sie die Leitung des Psychologischen Dienstes im Training Center der Diakonie in Mitrovica. Berufsbegleitend bildete sie sich in Seminaren des Zentrums für Traumatologie und Trauma Therapie Niedersachsen weiter. Nach neun Jahren bei der Diakonie machte sie sich letzten Herbst selbständig. Nun bietet sie Therapie, vor allem Trauma Therapie, in einer psychologischen Praxis in Pristina an, macht ausserdem Supervision und Trainings für verschiedene Teams, die mit Kindern und Jugendlichen arbeiten. Weiter ist sie Mitglied der von der Regierung eingesetzten Kommission, welche die Entschädigungsanträge von im Krieg vergewaltigten Frauen bearbeitet.
Hilfe für traumatisierte Menschen
Um ihre eigene traumatische Geschichte zu bewältigen, hatte Xhevahire Balaj über Jahre in Therapie und Ausbildung an sich gearbeitet. Nach dem Krieg nahm sie zudem mehrere Male an internationalen Friedenscamps in Teufen teil und konnte dank Unterstützung durch schweizerische Freunde während der Semesterferien Psychotherapiestunden in der Schweiz besuchen.
Auf die Frage, ob ihre eigenen traumatischen Erlebnisse bei ihrer Arbeit hilfreich seien, überlegt Xhevahire einen Moment. „Ich glaube ja, es hilft mir, ich habe viele traumatisierte Patientinnen und ich kann mich in ihre Situation einfühlen. Andererseits muss ich aufpassen, dass ich trotzdem eine gesunde Distanz halte, damit es nicht zu Gegenübertragungen kommt.“
Traumatische Erlebnisse haben nicht bei allen Menschen gleich dramatische Folgen. Was ist wichtig und hilfreich nach solchen Erfahrungen, frage ich die Psychologin. „Wer als Kind sichere Bindungen hatte, hat bessere Voraussetzungen, ein Trauma verarbeiten zu können als Kinder, die in ungesicherten Verhältnissen aufwachsen.“ Bei ihrer Arbeit als Therapeutin versuche sie, den Menschen zu helfen, eine innere, emotionale und körperliche Sicherheit zu finden. „Dabei helfen Visualisierungen. Aber auch die äussere Sicherheit, die familiäre, die soziale und die ökonomische Sicherheit sind wichtig.“ Und wer von starken, beängstigenden Gedanken überflutet werde, von der Angst, traumatische Erlebnisse würden wieder passieren, müsse lernen, Distanz dazu zu finden und sie zum Beispiel bildlich in einen Tresor schliessen, damit sie ihn nicht mehr unkontrolliert überfallen.
Wenn sie an die Flüchtlinge aus der Ukraine denkt, hofft Xhevahire, „dass sie fern von ihrer Heimat in eine Umgebung kommen, in der sie sich sicher fühlen können, an einen Ort, wo sie unterstützt und als Menschen wahrgenommen werden, nicht nur als Nummern – und dass der Krieg bald beendet wird.“
Elisabeth Kaestli
- April 2022
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