Seit dem Ende des Krieges in Kosovo im Juni 1999, d.h. seit fast 25 Jahren, drängen die Europäische Union, die USA und die UNO Kosovo und Serbien, ihre Beziehungen zu «normalisieren». Wie wenig Erfolg diese Bestrebungen auf politischer Ebene bisher hatten, ist immer wieder in den Medien zu lesen. Aber wie sieht es in Kosovo auf der persönlichen Ebene von Mensch zu Mensch aus zwischen der kosovo-albanischen und der kosovo-serbischen Bevölkerung? Wie eine Annäherung möglich ist, zwischen Menschen, die durch Unterdrückung und Krieg zu Feinden wurden, erzählen die Albanerin Igballe Rogova, Direktorin der Dachorganisation «Rrieti i Grave të Kosovës» (Kosovo Frauen-Netzwerk) und die Serbin Nevanka Rikalo, Gründerin der serbischen Frauenorganisation «Ruka+ Ruci» (Hand + Hände).
Versöhnung kann man nicht kaufen
Kurz nach dem Kosovo-Krieg hatte Igballe Rogova das Drängen internationaler Akteure auf Versöhnung zwischen der kosovo-albanischen und der kosovo-serbischen Bevölkerung kritisiert. «Wir brauchen zuerst Heilung, lasst uns selbst entscheiden, wann es Zeit für Versöhnung ist. Wir brauchen Zeit für den Heilungsprozess, dann erst können wir über wirklichen Frieden und gegenseitiges Verständnis reden», sagte sie damals. Ein internationaler Spender hatte ihr im Oktober 1999 für das Frauennetzwerk 10’000 Dollars für Versöhnungsarbeit angeboten. Sie lehnte das Geld ab und ist heute überzeugt, dass dies richtig war: «Versöhnung kann man nicht kaufen!», betont sie. Doch Frauenorganisationen in Kosovo bemühten sich als Erste, nach dem Krieg ethnische Gräben zu überwinden.
Über zwanzig Jahre später antwortet Igballe Rogova – genannt Igo – auf meine Frage, ob jetzt die Zeit für Versöhnung gekommen sei: «Wir haben noch nicht wirklichen Frieden. Es gibt noch nicht Gerechtigkeit, noch keine klare Situation mit Serbien. Die Menschen in Kosovo brauchen immer noch Heilung.» Sie erinnert daran, dass die Suche nach Menschen, die im Krieg verschwunden sind, nicht abgeschlossen ist. Und der Überfall Russlands auf die Ukraine im Februar 2022 hat in Kosovo – wie in anderen Ländern, die Krieg erlebten – bei vielen Menschen die eigenen Traumata erneut geweckt. Zudem lösen immer wieder Zwischenfälle Ängste aus, wie insbesondere der Überfall serbischer Terroristen am 24. September 2023 in Banjska im Norden von Kosovo. «Wir fühlen uns nicht in Sicherheit», sagt Igo, «wir wissen, dass Serbien versucht, die Geschichte zu ändern. Wir wussten auch, dass der Anführer der Terrorgruppe vom 24. September, Milan Radoićić, nicht bestraft wird.»
Und doch haben Frauen in all den Jahren viele Schritte unternommen, für eine Annäherung zwischen den verschiedenen Ethnien in Kosovo. Für Igo war dies bereits in den 1990er Jahren ein Anliegen. Ihre Motivation zu Kontakten und Verständigung über ethnische Grenzen hinweg, hat viel mit den «Women in Black» (Frauen in Schwarz) zu tun, die in Jugoslawien – vor allem in Belgrad – damals sehr aktiv waren gegen Krieg und Unterdrückung des Miloševic-Regimes. «Ich war 1995 zum ersten Mal mit ‘Women in Black’ zusammen, diese Kontakte veränderten mein Leben, es war eine feministische Schulung für mich. Ich verstand, dass das Milošević-Regime schuld an der Unterdrückung der albanischen Bevölkerung in Kosovo war, nicht das serbische Volk. Von dort hatte ich eine Vision, wie serbische Frauen in unsere Aktivitäten einbezogen werden könnten.»
Diese Vision, serbische Frauen in die Frauenaktivitäten in Kosovo einzubeziehen, begann Igo sehr bald nach dem Kosovo-Krieg umzusetzen. Dank ausländischer Unterstützung entstanden damals zahlreiche neue Frauenorganisationen in ganz Kosovo, und engagierte Frauen gründeten die Dachorganisation der Frauenorganisationen, das Kosovo Frauen-Netzwerk, das Igo bis heute mit viel Energie und Engagement leitet. «Das Netzwerk finanzierte sich die ersten drei Jahre selbst», erzählt sie. «Während unseren Treffen machten wir jeweils eine Kollekte für die Bezahlung der Serbisch- und der Englisch-Übersetzerinnen. Auch als noch keine Serbinnen an den Treffen teilnahmen, hatten wir immer Übersetzung auf Serbisch, dies war unsere Willkommenskultur.»
Schritt für Schritt Vertrauen aufbauen
Im Jahr 2001 nahm die erste Serbin an den Treffen des Netzwerkes statt. Es war Nevenka Rikalo – kurz Nena – von der serbischen Frauenorganisation «Ruka + Ruci» (Hand + Hände). Wie es dazu kam, ist für Igo eine sehr emotionale Geschichte. «An den Treffen der ‘Women in Black’ waren neben Vertreterinnen aus der Region auch solche von internationalen Organisationen dabei, namentlich von der schwedischen Frauenorganisation ‘Kvinna till Kvinna’, die gleich nach dem Krieg in Kosovo ein Büro eröffnete. Über sie erhielt ich die Information, dass eine serbische Frau in Kosovo eine Frauenorganisation gründen wolle und dazu Unterstützung suche. Sie hatte von ihrer Cousine aus Bosnien den Rat erhalten, mich anzufragen; aber da sie mich nicht kannte, wandte sie sich an «Kvinna till Kvinna». Als ich den Anruf bekam, sagte ich erstaunt: ‘Wirklich? OK, ich treffe diese Frau’. Aber zu diesem Zeitpunkt war es noch nicht möglich, als Albanerin so einfach eine Serbin zu treffen. So fuhr mich jemand von ‘Kvinna till Kvinna’ mit ihrem gekennzeichneten Auto zu Nena nach Kosovo Polje, der mehrheitlich serbisch bewohnten Gemeinde etwa fünf Kilometer von Pristina entfernt. Wir sprachen serbisch zusammen. Bevor wir jedoch über die Arbeit sprachen, sagte ich, ich möchte, dass sie zuerst meine Geschichte über den Krieg höre. Ich erzählte ich ihr, wie ich mit meiner alten Mutter, einem Bruder und einer Schwester von der serbischen Polizei aus unserem Haus in Pristina vertrieben und zum Bahnhof geschickt wurden, wo uns der Zug mit Tausenden von Menschen nach Mazedonien bringen sollte. Dann folgten fünf schrecklichen Tage bei Kälte und Regen unter freiem Himmel in Blace, im Niemandsland zwischen Kosovo und Mazedonien, bis uns Mazedonien ins Land liess. Ich erzählte auch, dass unsere serbische Nachbarin in Pristina der Polizei verraten hatte, dass unsere Familie sich noch im Haus versteckte als die Vertreibungen begannen. Nena hatte Tränen in den Augen, als sie meine Geschichte hörte – auch wenn von meiner Familie glücklicherweise niemand umgebracht wurde. Als ich zu Ende erzählt hatte, fragte sie, ob wir jetzt anfangen könnten. Ich sagte nein, jetzt möchte ich deine Geschichte hören.»
Nena ist Bau-Ingenieurin und arbeitete damals in Kosovo Polje auf der Gemeinde. «Während dem Krieg 1998/99 gingen wir täglich ins Büro, aber wir konnten meist nicht arbeiten, es gab grosse Demonstrationen der Albaner und dann im Frühjahr 1999 die NATO-Bombardierungen.» Erinnert sie sich an den ersten Besuch von Igo im Jahr 2001? «Ja, mein Mann Bora öffnete die Türe und Igo, die in Begleitung einer Mitarbeiterin von ‘Kwinna till Kwinna’ war, frage, ob wir sie reinlassen würden. Mein Mann sagte: ‘Wenn ihr gute Menschen seid, dann tretet ein’. Die Geschichte von Igo anzuhören, war für mich schwierig, es war keine schöne Geschichte. Es ist hart, weggehen zu müssen und nicht zu wissen, was passiert, wohin man geht, das ist herzzerbrechend. Aber es war damals nicht meine Erfahrung. Wie konnten diese Menschen alles verlassen? 2004, als wir selbst flüchten mussten, verstand ich sie besser.» Von dieser Erfahrung wird noch die Rede sein.
Igo, die von da an regelmässig Nena besuchte, bis diese 2001 dem Kosovo Frauen-Netzwerk beitrat, hatte eines Tages das Gefühl, Nevenka sei bedrückt. Was war los? Schliesslich habe sie ihr gesagt, ihr Mann Bora meine, Igo komme nicht aus Freundschaft zu ihr, sondern wegen des Geldes, bzw. weil Organisationen, die multiethnisch arbeiteten, für ihre Projekte Geld von ausländischen Organisationen bekämen. Igo realisierte, dass sie, jetzt, wo das Vertrauen unter ihnen beiden vorhanden war, auch das Vertrauen von Bora gewinnen musste.
Einige Zeit später erhielt Igo einen Anruf von Bora, der ihr von einem kleinen serbischen Buben aus der Nachbarschaft erzählte, der nicht sprechen könne, weil er nichts höre. Bora fragte, ob sie ihm helfen könne, in Belgrad könnten sie ihm ein Hörgerät anpassen, das 1700 D-Mark koste, so würde er sprechen lernen. «Hast du es bei UNICEF versucht?», fragte Igo. «Ja», meinte er, «aber sie benötigen ein halbes Jahr, um ein solches Projekt zu bewilligen.» «Ok, sagte ich, wenn du 700 D-Mark von Serben zusammenbringen kannst, werde ich 1000 Mark von Albanern sammeln.» «Von Albanern?» fragte er ungläubig. «Ja!» Igo begann in ihrer Familie und Verwandtschaft zu sammeln, dann ging sie zu ihren zahlreichen ausländischen Freunden und Freundinnen und schliesslich zum Frauennetzwerk. «Oh Gott, ich werde diesen Tag nie vergessen», erzählt sie. «Ich sprach eine Viertelstunde über den kleinen Buben und weshalb ich für ihn Geld sammle, und erst am Schluss sagte ich, ‘es ist ein serbisches Kind’. Einen Moment war völlige Stille im Raum und ich wusste nicht, wie die Frauen reagieren würden, ob sie wütend würden. Aber nein, alle griffen in ihre Taschen und jede gab das, was sie geben konnte. Innerhalb von zwei Wochen hatte ich die 1000 D-Mark beieinander, und auch Bora hatte die 700 D-Mark gesammelt. Er konnte kaum glauben, dass ich es geschafft hatte, und er erzählte die Geschichte vielen Leuten. Ich bekam darauf Telefonanrufe von Menschen, die keinen Namen nannten und nur das Wort ‘havla’, danke auf Serbisch sagten und aufhängten. – Bora starb vor ein paar Jahren, aber immer, wenn ich an ihn denke, kommt mir diese Geschichte in den Sinn.»
Sich zusammen tun gegen die Angst und für die eigenen Rechte
Nach dem Krieg von 1998/99, als die albanischen Vertriebenen zurückkehrten, zog ein grosser Teil der serbischen Bevölkerung weg aus Kosovo, und die, welche dablieben, wie Nevenka und ihre Familie, lebten in Angst vor albanischen Racheakten. «Es gab Angriffe von albanischen Jugendlichen auf serbische Schulkinder und Frauen wurden auf dem Markt beschimpft. Wir Frauen begannen deshalb, uns zu organisieren und für die Rechte der serbischen Bevölkerung zu kämpfen. Wir arbeiteten mit ‘Kwinna till Kwinna’ zusammen und fuhren mit Ärzten und Krankenschwestern in Dörfer, wo die serbische Bevölkerung nicht zum Arzt gehen konnten. Wir brachten unsere Klagen beim Büro der OSZE (Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa) vor und ermutigten die Leute, alle Übergriffe, alles Unrecht zu melden. Später befassten wir uns nicht mehr ausschliesslich mit Menschenrechten, wir kümmerten uns um Themen wie Gesundheitsvorsorge, Gewalt in Familien, die ökonomische Situation, Kultur, Eigentumsrechten usw. Bereits im Jahr 2000 machte ich in der vom UNHCR ins Leben gerufenen «Kosovo Women’s Initiative» mit. Ich konnte jedoch nur an die Treffen gehen, wenn Igo mich abholte, sonst war es gefährlich für mich als Serbin. Das erste Treffen, erinnere ich als unangenehm. Ich war die einzige Serbin im Raum – Igo hatte in einem anderen Raum zu tun – und Albanerinnen kamen auf mich zu und riefen mir Dinge zu wie: ‘Warum bist du hier hin gekommen? Ihr Serben habt meinen Mann getötet, meine Kinder!’. Sie waren voller Hass und ich wusste nicht, was tun. Da hörte ich einen Pfiff und ich sah Igo im Saal, die durch die Finger pfiff, so dass sich alle nach ihr umdrehten. ‘Was ist los, tat euch Nena irgend etwas zu Leide?’ rief sie. Eine der Frauen kam auf mich zu, sie sprach serbisch und brachte mir Wasser. Ich war ihr so dankbar! Danach arbeiteten wir zusammen, sie war von der Organisation ‘Open Door/Offene Türe’.»
Im Jahr 2001 wurde Nena das erste serbische Mitglied des Kosovo Frauen-Netzwerkes. Igo erinnert sich, dass Nena darauf von manchen Serben und Serbinnen angefeindet wurde. «Aber dank ihrer Hartnäckigkeit haben wir heute selbst serbische Frauen im Netzwerk, die Nevenka damals kritisiert hatten. Inzwischen sind etwa zehn serbische Organisationen Mitglied des Netzwerkes, das insgesamt rund 160 Organisationen zählt. Der Kontakt mit serbischen Frauen war nicht immer einfach für mich, uns zu umarmen war nicht selbstverständlich nach dem Krieg. Auch ich wurde angefeindet wegen dieser Kontakte, aber ich bin Feministin und ich wollte und will es immer noch tun, ich will das multiethnische Netzwerk. Ich lernte schon in der Familie, nicht nachtragend zu sein und auch zu vergeben.»
Nena erzählt, dass ihr Vater Lokomotivführer war und sie im Bahnhofgebäude in Kosovo Polje lebten, wo es auch albanische Nachbarn gab. «Als Kind spielte ich mit albanischen Nachbarskindern, die Albaner sprachen Serbisch mit uns, wir dachten nicht einmal daran, dass wir Albanisch lernen sollten», meint sie lachend. Bis heute spricht sie nicht Albanisch, im Gegensatz zu ihrem verstorbenen Mann, der Albanisch beherrschte.
Gewaltausbruch gegen die serbische Bevölkerung
Mitte März 2004 kam es in Kosovo zu gewalttätigen Demonstrationen und Ausschreitungen albanischer Demonstranten gegen die serbische Bevölkerung, welche die Gräben zwischen den zwei Bevölkerungsgruppen wieder tiefer werden liessen. Auslöser war das Ertrinken von zwei albanischen Kindern im Fluss Ibar, der die Stadt Mitrovica-Nord und -Süd trennt, und für das Unglück wurden fälschlicherweise die Serben beschuldigt. Nena erlebte die Unruhen an ihrem Wohnort Kosovo Polje. «Am 17. März 2004 sagte mir mein Chef um 14h, ich solle nach Hause gehen, es gebe Probleme und die KFOR habe wegen Protesten der Albaner die Strasse bei Čaglavica gesperrt. Mein 12jähriger Sohn war bereits Zuhause, mein Mann unterrichtete in Ugljare und war dort wegen der Strassensperre blockiert. Mit meiner Mutter holten wir Zuhause die Schweine und Hühner rein und fütterten sie. Als wir Lärm hörten, ging Mutter hinaus, um die Fensterläden zu schliessen, falls gegen unser Haus Steine geworfen würden. Da kam aber bereits eine grosse Horde von jungen Männern mit albanischen Fahnen in Richtung unseres Hauses. Drei von ihnen griffen meine Mutter mit Stöcken an. Ich ging sofort raus und packte den Jungen, der Mutter schlug, entwand ihm seinen Stock und schleppte die verletzte Mutter ins Haus. Sie hatte Verletzungen an Hals und Arm und ein gebrochenes Schlüsselbein und war völlig durcheinander. Auch für meinen Sohn war dieser Angriff ein Trauma. Nachdem die Randalierenden weitergezogen waren, ging ich zur Polizei, die ganz in der Nähe war, die UNMIK-Polizei (UNO-Mission in Kosovo). Sie holten uns darauf mit einem Polizei-Auto ab und führten uns ins Gemeindehaus, wo ich mein Büro hatte. Der Stress war so gross, dass ich nur gerade meine Handtasche mitgenommen hatte.
Wir verloren alles, das Haus wurde in diesen Unruhe-Tagen abgebrannt, wie viele andere serbische Häuser. Die Polizei holte in dieser Nacht viele weitere serbische Familien ins Gemeindehaus. Weil die Namen der Strassen nach dem Krieg geändert wurden und weil die ausländischen Polizisten die Sprache nicht verstanden, bot ich an, mit ihnen zu den richtigen Adressen zu fahren. Mein Sohn hatte Angst und wollte nicht, dass ich weg ging, aber ich sagte ihm, die Leute bräuchten Hilfe. Bis um 4 Uhr morgens holten wir Leute Zuhause ab. Beim Gesundheitszentrum bat ich um Hilfe für meine verletzte Mutter. Eine Ärztin kam mit, aber als ich realisierte, dass sie einzig Pflaster für die Wundpflege dabei hatte, wurde ich wütend und schickte sie weg. Schliesslich kam die KFOR (NATO-Kräfte in Kosovo) und holte uns alle mit einem KFOR-Bus ab. Wir wurden gefragt, wer nach Serbien wolle oder wohin sonst. Unsere Familie wollte nicht nach Serbien, ich hatte eine Schwester in Ugljare, ein Dorf nur wenige Kilometer von Kosovo Polje entfernt, und so liessen sie uns dort aussteigen. Ich war empört, weil uns die KFOR nicht geschützt hatte, und nun standen wir da auf einem Feld ohne nichts. Wir gingen zu meiner Schwester, die in etwa einem Kilometer Entfernung wohnte. inzwischen war auch mein Mann Bora dort eingetroffen. Ein Neffe von ihm kam aus Gracanica und nahm uns mit in sein Haus. Dort wurde meine verletzte Mutter endlich ärztlich behandelt. Meine Eltern blieben in der Wohnung von Boras Neffe, während Bora, mein Sohn und ich bei meiner zweiten Schwester in Gračanica unterschlüpfen konnten.»
Solidarität über ethnische Gräben
Es war eine schöne Überraschung als Igo kurz nach dem 17. März 2004 Nena anrief und sie fragte, wie es ihr gehe, ob sie sie treffen könne. «Sie kam nach Gračanica und ich riet ihr, das Auto mit kosovarischen Autoschildern versteckt hinter dem Haus zu parkieren», erzählt Nena. Damals hatten die meisten Serben in Kosovo noch serbische Nummernschilder. Igo brachte der Familie 250 Dollars mit, die Nena zunächst nicht annehmen wollte, doch Igo insistierte, sie würden dieses Geld jetzt für persönlich Gegenstände, Kleider etc. benötigen. «Wir gaben das Geld dann der Schwester meines Mannes, die nach Serbien umzog und es dringender benötigte. Der Besuch von Igo und diese Geste waren unglaublich wichtig für mich nach den Geschehnissen vom 17. März, sie heilten Wunden und baute mein Vertrauen in albanische Frauen wieder auf. Igo half auch anderen serbischen Nichtregierungsorganisationen mit dem Geld von ausländischen Organisationen, der sogenannten Soforthilfe, aber darüber wurde nicht laut gesprochen.»
Die serbischen Häuser, die 2004 abgebrannt wurden, waren ein Jahr später wieder aufgebaut, aber noch bevor ihre Bewohner dort wieder einziehen konnten, wurden sie erneut niedergebrannt. «Wir hatten alles verloren, auch die kleine Kaffeerösterei, die wir betrieben hatten. Doch mein Mann trauerte einzig der grossen Bibliothek nach, all den Büchern, die er über Jahrzehnte gesammelt hatte», erzählt Nena mit einem traurigen Lächeln. Jahre später konnte die Familie im Dorf Laplje Selo, das zur Gemeinde Gračanica gehört, eine Wohnung beziehen. Doch richtig Zuhause, fühlt sie sich dort nicht, obwohl die Bewohner in ihrer grossen Mehrheit Kosovo-Serben sind. «Die Dorfbewohner akzeptieren uns nicht wirklich, für sie sind wir immer noch Städter aus Kosovo Polje», sagt sie.
Die Entschuldigung
Igo erinnert sich an ein Erlebnis im Jahr 2006, das für sie bis heute von grosser Bedeutung ist. Im Jahr 2006 begannen in Wien unter der Leitung des ehemaligen finnischen Präsidenten Martti Ahtisaari Verhandlungen zwischen Kosovo und Serbien über den künftigen Status der unter UNO-Verwaltung stehenden serbischen Provinz Kosovo. Die Frauenorganisationen waren nicht in den Delegationen vertreten. So bildeten das «Frauennetzwerk Kosovo» und die «Women in Black» von Belgrad die «Women Peace Coalition». Sie hatten Verbindung zu jemandem im Büro von Ahtisaari und wussten somit, welche Themen in der nächsten Sitzung verhandelt würden. «Wir Frauen trafen uns jeweils vor diesen Sitzungen, diskutierten die Themen und schickten unsere Schlussfolgerungen an die beiden Regierungen und an Martti Ahtisaari, den wir auch ein-, zweimal treffen konnten. Dann beschlossen wir, uns in Struga (Mazedonien – heute Nord-Mazedonien) zu einer Konferenz zu treffen.»
Igo erinnert sich, wie sie mit Staša Zajović von den «Women in Black» auf der Bühne stand, um die Versammlung zu eröffnen. «Da sagte mir Staša, ich solle mich setzen, es gebe noch etwas zu tun. Ich weigerte mich zuerst, denn was würden meine kosovo-albanischen Kolleginnen sagen, wenn eine Serbin allein die Tagung eröffnen würde? Sie insistierte aber, und ich vertraute ihr und setzte mich, obwohl meine Sitznachbarinnen aufbegehrten. Doch dann kamen alle serbischen Frauen zu uns und baten eine um die andere von uns um Vergebung für das, was wir im Krieg erlitten hatten.» Es war ein sehr emotionaler Moment für die Frauen, und da Fernsehjournalisten anwesend waren, verbreitete sich die Szene in den Medien. Auf der Rückreise gratulierten die kosovarischen Zöllner den Kosovo-Albanerinnen, während die Serbinnen bei ihrer Heimreise am serbischen Zoll beschimpft wurden.
«Es ist bis heute so wichtig, dass wir von serbischer Seite eine Entschuldigung für das Erlittene hören. Später tat dies auch ein serbischer Oppositionspolitiker, aber die ‘Women in Black’ von Belgrad waren die ersten. Wenn Präsident Alexander Vucić erklären würde, er sei Teil des Milošević-Regimes gewesen – er war Informationsminister – aber jetzt sei eine andere Situation, er akzeptiere Kosovo als Land und entschuldige sich für die Kriegsverbrechen – das wäre das Paradies! Aber dies wir mit Vučić nicht geschehen. Vielleicht später.»
Unterschiedliche Heimatgefühle
Angesprochen auf das Verhältnis im Kosovo Frauen-Netzwerk zwischen albanischen und serbischen Frauen sowie Frauen anderer Minderheiten meint Nena, es sei wichtig gewesen, über die Ereignisse während des Krieges und während den Unruhen zu sprechen, über Massaker, über erlittene Verluste. «Es ging um Trauer und um Zusammenarbeit. Ich bin stolz auf unseren Schritt zur Zusammenarbeit über ethnische Grenzen hinweg. Die gemeinsamen Aktivitäten geben uns die Kraft, für Gleichberechtigung zu kämpfen und Strategien zu finden, um gegen die Gewalt an Frauen anzugehen und gegen all die Einschränkungen, die Frauen aller Volksgruppen in Kosovo erleiden.»
Bei allem gegenseitigen Verständnis behält Nena ihren serbischen Nationalstolz. «Wir haben alle unseren Patriotismus, vielleicht ist meiner etwas stärker als jener von Igo», meint sie lachend, «im Herzen bin ich Serbin und mein Präsident ist Alexander Vucić – aber ich weiss, dass ich in Kosovo lebe.» Für Igo hingegen ist Kosovo eindeutig ihr Land, auch wenn sie sich zur albanischen Ethnie zugehörig fühlt, die ausser in Albanien auch in Montenegro, in Serbien und in Nord-Mazedonien vertreten ist. Und sie träumt vom Tag, an dem Serbien endlich Kosovo als unabhängigen Staat anerkennen wird, wie dies weit über hundert Staaten längst tun.
Unter dem Milošević-Regime in der 1990er Jahren lebte die kosovo-albanische Bevölkerung als unterdrückte Mehrheit praktisch in einem Apartheitssystem. Ab 1990 wurden rund zwei Drittel der Kosovo-AlbanerInnen durch die serbische Verwaltung entlassen und durch serbische Angestellte ersetzt. 1998/99 brach der Krieg zwischen Kosovo und Serbien aus und führte zur Vertreibung von schätzungsweise 850’000 Kosovo-AlbanerInnen. Nach Kriegsende flüchtete darauf ein grosser Teil der serbischen und der Roma-Bevölkerung Kosovos nach Serbien und die meisten Gebliebenen zogen in Gemeinden mit mehrheitlich serbischer Bevölkerung. Die Kontakte zwischen der albanischen und der serbischen Bevölkerung, die während den Jahren der Unterdrückung durch das Milošević-Regime immer weniger wurden, reduzierten sich durch den Krieg von 1998/99 zusätzlich. Auch fast 25 Jahre nach dem Krieg haben nur wenige AlbanerInnen mit SerbInnen Kontakt, sie leben in verschiedenen Welten. Kosovo-SerbInnen schauen serbische Fernseh-Stationen und die meisten betrachten Vuciç als ihren Präsidenten und die Regierung in Belgrad als ihre Regierung, nicht jene in Pristina. Die Nachkriegsgeneration der Kosovo-Albaner lernt in der Schule kein Serbisch mehr, die Kosovo-Serben lernten schon vor dem Krieg kaum Albanisch.
Igballe Rogova (Igo), geb. 1961, aufgewachsen in Pristina, gründete 1989 mit ihrer Schwester Safete die Frauenorganisation «Motrat Qiriazi» (Name nach den Schwestern Sevasti und Parasqevi Qiriazi, die in Albanien im 19.Jahrhundert die erste albanischsprachige Schule eröffneten), die sich zu Beginn stark für die Alphabetisierung von Frauen in abgelegenen Regionen einsetzte. Nach dem Krieg, als zahlreiche neue Frauenorganisationen entstanden, wurde die Dachorganisation «Kosovo Women’s Network» gegründet, die Igballe Rogova seither leitet.
Nevenka Rikalo (Nena), geb. 1957 in Pristina und aufgewachsen in Kosovo Polje/Fushë Kosova mit mehrheitlich kosovo-serbischer Bevölkerung. Gründerin der Frauenorganisation «Ruka + Ruci» (Hand + Hände), die sich namentlich für Frauenrechte und für Einkommensförderung einsetzt und kostenlose Rechtsberatung und psychosoziale Hilfe leistet.
Elisabeth Kaestli, Autorin von: «Frauen in Kosova – Lebensgeschichten aus Krieg und Wiederaufbau» 2001, «Gräben und Brücken – Freundschaften vor und nach den Kriegen im Balkan», 2004, «7 Brüder, 7 Schwestern – eine kosovarische Familie in der Welt» 2013 (alle Limmat Verlag Zürich).