Integration
Als 9-Jähriger ausgeschafft
Ein lebensveränderndes Ereignis aus Sicht eines Kindes
A. Z. wurde am 18. April 1993 im Kantonsspital Wil SG geboren. Bis kurz vor seinem zehnten Geburtstag lebte der Junge mit seinen Eltern und seiner älteren Schwester in Sirnach im Kanton Thurgau. Doch am 7. März 2003 wurde der Viertklässler aus seinem gewohnten Umfeld herausgerissen und ins Flugzeug in Richtung Mazedonien gesteckt.
13 Jahre ist dies bereits her. Bevor seine Familie des Landes verwiesen wurde, waren sie über fünf Jahre lang nicht mehr im Heimatland der Eltern gewesen. „Wir hatten gar nicht genug Geld, um nach Mazedonien zu gehen,“ sagt der heute 23-Jährige. Sie mussten jeden Rappen zwei Mal umdrehen, kauften nur das Nötigste, die Kinder teilten das einzige Kinderschlafzimmer miteinander, und das Wort „Verreisen“ war schon länger aus ihrem Wortschatz verschwunden. Was A. Z. damals nicht wusste, war, dass sie bald würden verreisen müssen, unfreiwillig, ohne Rückflugticket, ohne Aussicht auf Wiederkehr.
„Ich muss öfters an diesen Tag denken“, sagt der blonde, blauäugige junge Mann in breitem Ostschweizer Dialekt. Es war ein Freitagmorgen. A. Z. wartete zusammen mit seiner Mutter und seiner Schwester in ihrer 3-Zimmerwohung darauf abgeholt zu werden. Seine Schwester schluchzte ununterbrochen, die Mutter versuchte sie zu trösten, lief immer wieder nervös in der Wohnung hin und her, während A. Z. selber still auf dem Sofa sass und abwartete, was als nächstes passieren würde. Der Vater war schon zwei Tage vorher ausser Landes geschafft worden. Der Rest der Familie hatte Zeit bekommen, ihre Koffer zu packen. In die Schule konnten die Geschwister an diesem Tag nicht, denn ihnen war zuvor schriftlich mitgeteilt worden, dass sie am 7. März 2003 das Land zu verlassen hätten. Der letzte Tag in der Heimat des Sirnacher Schülers.
Um ca. 8 Uhr klingelte es an der Türe. „Es war, glaube ich, die Fremdenpolizei. Ein Mann und eine Frau.“ Genau kann er sich nicht erinnern. „Ich habe gar nicht begriffen, was ablief und was das jetzt bedeutet, dass wir nach Mazedonien müssen.“ Nachdem die beiden Polizisten ihnen noch einmal mitteilten, dass die Familie die Schweiz verlassen muss, wurden sie von den beiden zum Flughafen gefahren. Nach zwei Stunden Flugzeit landeten sie in Skopje.
Auf die Frage, warum eine solch scharfe Massnahme erforderlich gewesen ist, hat A.Z keine Antwort. „Ich weiss es nicht. Ich verstehe immer noch nicht, warum wir ausgeschafft wurden. Auch meine Eltern fragen sich immer noch, warum. Niemand von uns war je kriminell.“ Der einzige plausible Grund könnte die Arbeitsunfähigkeit seines Vaters sein. Dieser verletzte sich 1992 bei einem Arbeitsunfall auf einer Baustelle in der Schweiz so schwer, dass er mit 43 Jahren bereits Frührentner war. „Wir denken, dass unsere Ausschaffung aus staatlichem Interesse ist. Wenn wir in Mazedonien leben, zahlen sie nicht einmal einen Drittel des Betrags, den sie in der Schweiz zahlen müssten.“ Eine Bestätigung für diese Vermutung gibt es nicht.
Seither lebt A. Z. in einem 5.000 Seelen-Dorf 15 Kilometer östlich der Stadt Tetovo im albanischsprachigen Gebiet Mazedoniens. Dort besuchte er bereits zwei Wochen nach seiner Ankunft die Primarschule. Dabei machte ihm der Gebrauch der albanischen Schriftsprache besonders Mühe. „Ich habe vielfach nichts verstanden. Konnte nur Dialekt und das mit Schweizerakzent. Die lachten mich aus. Es war schwierig, aber man gewöhnt sich daran“, meint er. Zu seinen Freunden in der Schweiz hielt er den Kontakt durch E-Mailverkehr aufrecht. Seit der Visumsbefreiung für mazedonische Staatsangehörige im Jahr 2009 besucht er sie sogar hin und wieder für einige Tage oder gar Wochen. Doch die darauffolgende Trennung von Land und Freunden schlägt ihm jedes Mal erneut aufs Gemüt.
Trauer, Wut und Verzweiflung bei Freunden und Familienmitgliedern
Hirmete Hasani, Sozialarbeiterin aus Zürich, hat das Thema Landesverweis von einem anderen Standpunkt aus betrachtet. In ihrer Masterarbeit untersuchte sie die Trennungserfahrung im Jugendalter aufgrund der Ausschaffung einer nahestehenden Person.
„Das Wort Ausschaffung ist eine Erfindung der Deutschschweizerinnen und Deutschschweizer. Dieser volkstümliche Begriff wird als ‘Vollzug der Wegweisung unter Zwang’ definiert, was jedoch nicht konform mit der Definition im Ausländergesetz ist“ erklärt Hasani.
Für ihre Arbeit befragte sie Jugendliche und Erwachsene, die sich während ihrer Kindheit oder Jugend von einer nahestehenden Person trennen mussten, weil sie aus der Schweiz ausgewiesen wurden. Alle Betroffenen erzählten, dass die Entscheidung und Durchführung der Wegweisung sehr plötzlich kam. Aufgrund der Tatbestände oder ihrer fehlenden juristischen Kenntnisse, hatten die Befragten grosse
Mühe den Grund für diese Entscheidungen nachzuvollziehen. Zudem hinterliess die abrupte Trennung viele offene Fragen. „Die Hinterbliebenen wollen diesen Entscheid verstehen und suchen nach Jahren immer noch nach einer verständlichen Antwort“, sagt Hasani.
Trennungsschmerz und Trauer der Betroffenen zeige sich entweder in Form von Wut und Agression oder durch Rückzug und Unsicherheit, fand sie heraus. Vor allem die Ausweisung eines Elternteils oder Geschwisters ist eine grosse Belastung für Kinder und Jugendliche. „Wenn ein Familienmitglied ausgewiesen wird, verändern sich die familiären Rollenstrukturen. Sie werden aufgebrochen und umverteilt.“
Eine überfordernde Situation, die die Betroffenen nebst ihrem Trennungsschmerz bewältigen müssen.
Sehnsucht nach der Schweiz
A.Z. sitzt in einem Café mit dem wohlklingenden Namen „Melody“ mitten in Tetovo, einer lebendigen Stadt am Fusse der majestätischen Scharriberge und beobachtet die vorbeigehenden Passanten. Eine Gruppe Gymnasiasten, Mädchen mit langen, glatten Haaren und Jungs mit lässig um die Schultern gelegten Taschen, schlendern laut lachend an uns vorbei. Zukünftige Studierende mit genau so wenig rosigen Jobaussichten wie A. Z. Sein Bachelor in „Public Administration“ von der South East Europe Universität in Tetovo hat ihm noch keine Arbeitsstelle verschafft. Chancen hätte man hier nur, sagt A. Z., wenn man mit den Parteien verbunden sei und unheimlich viel Geld springen liesse. „Hier gibt es keine Zukunft,“ sagt er, wobei ihm die Resignation ins Gesicht geschrieben steht. Auch wenn er sich nach 13 Jahren an das Leben in Mazedonien gewöhnt hat, mit den Gedanken ist er ständig in der Schweiz. Wie wäre sein Leben verlaufen, hätte er in seinem Geburtsland bleiben können, fragt sich der junge Mann. Aus seiner Sicht war die Ausweisung ungerecht und hinterliess bei ihm ein noch andauerndes Gefühl der Demütigung. Trotzdem betont er, wie sehr er sich wünscht, wieder in die Schweiz zurückkehren und bleiben zu können.
„Es kann doch nicht sein, dass ich nicht das Recht haben soll, in dem Land zu leben, indem ich geboren bin. Ich hatte Freunde da. Ich konnte die Sprache perfekt. Warum darf man einem Kind so etwas antun?“ Doch er weiß, dass er nie eine Antwort darauf bekommen wird. Und schließlich hat er sogar noch eine Bitte: „Und, gell, meinen Namen darfst du nicht vollständig ausschreiben. Ich schäme mich irgendwie.“
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