Integration

Weltlehrtag 2024 mit Vlore Krug: Bildung ist mehr als Schule

Zum heutigen Weltlehrertag fragen wir mit Albinfo: Wie lange noch werden rassistische Vorbehalte als Hindernis im Bildungsweg von Kindern toleriert?

Lehrkräfte sind weit mehr als Wissensvermittler – sie tragen die Verantwortung, eine gerechtere und vorurteilsfreie Zukunft zu gestalten. Doch das starre Lehrerbild, das meine Generation noch erlebte, gehört endgültig der Vergangenheit an, sagt die Germanistin Vlore Krug. Zum heutigen Weltlehrertag fragen wir mit Albinfo: Wie lange noch werden rassistische Vorbehalte als Hindernis im Bildungsweg von Kindern toleriert? Ein diskriminierungsfreies Klassenzimmer, ist nicht nur wünschenswert, sondern unverzichtbar, um echtes, zukunftsfähiges lebenslanges Lernen zu ermöglichen – und diese Veränderung darf nicht an Deutschlands Grenzen haltmachen.

Frage: Frau Krug, Sie sehen sich selbst nicht als klassische Lehrerin, sondern als Bildungsschaffende für Erwachsene. Warum passt dieser Begriff besser zu Ihnen?
Vlore Krug: Der Begriff Lehrer war vor 50 Jahren noch einfach zu definieren – jemand, der in der Schule Wissen vermittelt. Heute geht es um weit mehr als nur um Unterricht. Ich sehe mich als Bildungsschaffende, weil ich in vielen Bereichen wirke: als Germanistin, als Organisationsentwicklerin und als jemand, der rassismuskritische und klassizismuskritische Perspektiven vertritt. Bildung ist nicht nur eine Schulangelegenheit, sondern betrifft die ganze Gesellschaft. Und es ist wichtig, dass wir allen Menschen Zugang zu Chancen ermöglichen. Es begeistert mich jedes Mal, wenn mein Sohn in der vierten Klasse etwas über Inklusion lernt und ich in derselben Woche zufällig ein “Lunch & Learn” in unserer Organisation zum Thema Neurodiversität veranstalte. Viele Eltern erhalten heute gleichzeitig mit der Diagnose (wie z.B. ADHS oder Autismus oder Hochbegabung) ihrer Kinder auch ihre eigene. Das zeigt, wie wichtig es ist, dass wir als Gesellschaft kontinuierlich beide Seiten – Kinder und Erwachsene – weiterbilden.

Frage: Sie haben nach einem Praktikum das Lehramtsstudium abgebrochen. Was war der ausschlaggebende Punkt?
Vlore Krug: Das Praktikum an einem deutschen Gymnasium war für mich ein Augenöffner. Ich habe erlebt, wie oft negative Stereotype als Grundlage für Beurteilungen von Schülern genutzt werden. Zum Beispiel, wenn ein Kind nichtdeutscher Eltern einen Fehler beim Schreiben macht, wird das schnell auf die Herkunft geschoben – es wird also gesagt, das Kind sei sprachlich nicht kompetent genug. Wenn aber ein Kind ohne Migrationshintergrund den gleichen Fehler macht, wird es oft milder bewertet und auf äußere Umstände zurückgeführt, wie „es hat vielleicht schlecht geschlafen.“ Das hat nichts mit der Sprachkompetenz zu tun, sondern mit Vorurteilen. Noch deutlicher wird es, wenn ein Kind aus einem weniger privilegierten Haushalt eine gute Note schreibt, obwohl es von zu Hause keine Unterstützung bekommt. Diese Leistung wird oft nicht als genauso wertvoll angesehen wie die eines Schülers, der mit Nachhilfe zur gleichen Note kommt. Das zeigt, dass Noten oft nicht das widerspiegeln, was sie eigentlich sollten – nämlich die tatsächliche Kompetenz des Kindes.

Frage: Sie sprechen oft von Chancengerechtigkeit. Was bedeutet das konkret für Sie?
Vlore Krug: Chancengerechtigkeit bedeutet, dass jedes Kind das Recht hat, sein Potenzial zu entfalten – unabhängig vom sozialen Hintergrund oder von Vorurteilen. Ich erinnere mich noch gut daran, dass ich in der vierten Klasse als Migrantin keine Gymnasialempfehlung erhielt. Ich musste meinen Weg über den zweiten Bildungsweg gehen, weil mir im ersten keine Chance gegeben wurde. Heute sehe ich es als meine Aufgabe an, auch in Unternehmen auf Chancengleichheit hinzuweisen. Und das beginnt schon beim Lebenslauf: Viele können sich aufgrund ihrer sozialen Herkunft teure Zertifikate oder Praktika nicht leisten. Man sollte jedoch auch den Erfahrungsschatz berücksichtigen, die durch einen alternativen Bildungsweg erworben wurde. Wenn zwei Menschen im siebten Stock ankommen – der eine mit dem Fahrstuhl und der andere über das Treppenhaus – zeigt dies bei letzterer Person durchaus besondere Stärken.

Frage: Was bedeutet Lernen für Sie?
Vlore Krug: Lernen ist viel mehr als nur gute Noten zu schreiben. Es hat viel mit Fehler machen, mit Scheitern, Resilienz und Kritikfähigkeit zu tun. Wir müssen lernen, nicht stehen zu bleiben, sondern gerade dann Gas zu geben, wenn es schwierig wird. In unserer Gesellschaft wird oft so getan, als ob Fehler etwas Schlechtes wären. Aber wer nie scheitert, wird auch nie die Möglichkeit haben, sich weiterzuentwickeln. Lernen ist für mich ein lebenslanger Prozess.


Frage: Wo sehen Sie aktuell grosse Herausforderungen in der Schule?
Vlore Krug: Eine grosse Herausforderung ist die fehlende Repräsentation. Viele Kinder sehen sich in Lehrkräften nicht widergespiegelt. Das führt dazu, dass sie sich weniger zugehörig fühlen und weniger Vertrauen in die Schule haben können. Dazu kommt, dass Bildung oft wie ein Wettbewerb wirkt, der denjenigen Vorteile bietet, die ohnehin privilegiert sind. Kinder lernen viel mehr als nur, was in der Schule gelehrt wird – sie lernen Resilienz, Frustrationstoleranz, das Überwinden von Hürden. Das sind Fähigkeiten, die in unserer Gesellschaft manchmal wichtiger sind als die Noten in einem Schulfach.