Integration
Dr. Cristiana Lucchetti: „Albanisch wird in der Schweiz immer noch unterschätzt“
„In meiner Forschung strebe ich danach, das Bewusstsein für das Albanische als wichtigste Herkunftssprache in der Schweiz zu stärken und dazu beizutragen, dass es als eine entsprechend wichtige, in der Schweiz zugehörige gesellschaftliche Ressource gesehen wird“
Dr. Cristiana Lucchetti, eine ambitionierte Forscherin am Slavischen Seminar der Universität Zürich, widmet ihr Leben der Erforschung der reichen sprachlichen und kulturellen Vielfalt Südosteuropas. Ihre Arbeit beleuchtet die Rolle von Sprache und Kultur bei der Gestaltung individueller und kollektiver Identitäten in der Schweiz.
Albinfo.ch: Können Sie uns einen Einblick in Ihre Forschung geben und was Sie dazu motiviert hat, sich auf dieses Fachgebiet zu spezialisieren?
C. Lucchetti: Mein Schwerpunkt liegt auf der Erforschung von Sprache und Migration. Aus mehreren Gründen habe ich mich dafür entschieden, Albanisch als Herkunftssprache in der Schweiz zu erforschen.
Die albanischsprachige Gemeinschaft der Schweiz bietet ein hervorragendes Beispiel, um die Mechanismen von Sprachprestige zu untersuchen. Einwanderung aus dem Kosovo, Nordmazedonien und Albanien ist ein Phänomen, welches die Schweizer Gesellschaft seit Ende des 20. Jahrhunderts demographisch stark geprägt hat. Vor diesem Hintergrund ist es nicht überraschend, dass das Albanische in der Schweiz die meistgesprochene Nichtlandessprache nach Englisch ist. Negativ überraschend ist jedoch, dass die gesellschaftliche Sichtbarkeit des Albanischen in der Schweiz längst nicht dessen Verbreitung und lebhaften Verwendung entspricht.
In meinem Forschungsprojekt geht es um die sogenannte „postjugoslawische“ Diaspora in der Schweiz. Hierbei spielen neben dem Albanischen – vor allem der in Kosovo gesprochenen Varietät Gheg – auch Bosnisch, Kroatisch, Montenegrinisch und Serbisch eine Rolle. Menschen, die diese Sprachen sprechen, wurden und werden in der Schweiz oft mit dem Etikett „Jugo“ und / oder „Shqippi“ abgestempelt. Gelegentlich wird das Etikett „Jugo“ verallgemeinernd für alle Menschen verwendet, die in erster, zweiter oder sogar dritter Generation aus den Ländern des ehemaligen Jugoslawiens, darunter Kosovo und Nordmazedonien, stammen, ganz abgesehen von ihrer Selbstwahrnehmung.
Mit meiner Forschung möchte ich diese fremdzugewiesenen Etiketten dekonstruieren und den Selbstwahrnehmungen albanischsprachiger Menschen in der Schweiz die gebührende Sichtbarkeit verleihen. Zudem möchte ich das Bewusstsein für das Albanische als wichtigste Herkunftssprache in der Schweiz zu stärken und dazu beizutragen, dass es als eine entsprechend wichtige, in der Schweiz zugehörige gesellschaftliche Ressource gesehen wird. Dies fordern auch meine Gesprächspartnerinnen und -partner in den Interviews.
Außerdem gibt es auch einen persönlichen Grund hinter meinem starken Interesse für die albanische Sprache: In der Grundschule habe ich meine beste Freundin Xhulia kennengelernt, die mit ihren Eltern aus Albanien nach Italien geflüchtet ist. Sie hat mein Interesse für Sprachen und Kulturen erweckt und ich möchte auf diese Weise ihr und ihrer Familie danken.
Albinfo.ch: Welche Bedeutung messen Sie der Erhaltung und Förderung von Sprache und Kultur in der Region bei?
C. Lucchetti: Meines Erachtens ist nicht nur nur die Erforschung, sondern auch die Erhaltung und Förderung der Sprachen und Kulturen Südosteuropas äußerst wichtig. Da die Länder des ehemaligen Jugoslawiens aus politischen, gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Gründen stark von Auswanderung und brain drain (Abwanderung von Akademiker:innen u. a. hoch qualifizierten Arbeitskräften ins Ausland, wodurch dem Abwanderungsland Arbeitskräfte verloren gehen.) betroffen sind, sollte die Erhaltung und Förderung der albanischen, aber auch der bosnischen, kroatischen, montenegrinischen, serbischen und anderer Sprachen des ehemaligen Jugoslawiens auch für die Zielländer ein großes Anliegen sein. Die albanische Diaspora in der Schweiz ist eine der größten weltweit. Aus diesem Grund plädiere ich dafür, dass Albanisch und weitere Sprachen Südosteuropas an Schweizer Schulen und Universitäten zu einem selbstverständlichen Bestandteil des Programms werden.
Albinfo.ch: Welche Herausforderungen sehen Sie in Bezug auf die Sprachpolitik und den Erhalt kultureller Vielfalt in der Schweiz?
C. Lucchetti: Die Schweiz hat ihre institutionelle Mehrsprachigkeit zu einem wichtigen Merkmal ihres nationalen Selbstverständnisses gemacht. Eine Herausforderung sehe ich darin, neben den vier Landessprachen Deutsch, Französisch, Italienisch und Rumantsch mehr Raum für Sprachen zu schaffen, die in der Schweizer Gesellschaft eine wesentliche Rolle spielen.
Konkret zeigt sich eine Herausforderung für den Erhalt und die Förderung sprachlicher und kultureller Vielfalt in der Schweiz im Angebot des Unterrichts „Heimatliche Sprache und Kultur“ (HSK-Unterricht). Der HSK-Unterricht besteht auch für Albanisch sowie für Bosnisch, Kroatisch, Montenegrinisch und Serbisch. Allerdings wird er nicht von den Kantonen oder dem Bund organisiert und finanziert, sondern die Kosten werden von den jeweiligen Botschaften und Konsulaten oder von privaten Vereinen getragen.
Natürlich ist es begrüßenswert, dass für Albanisch ein HSK-Unterricht angeboten wird. Allerdings hat sich in den Gesprächen mit meinen Studienteilnehmenden gezeigt, dass bei einigen Eltern gegenüber dem Unterrichtsangebot für Albanisch durchaus Skepsis vorhanden ist. Nach dem Motto, „warum sollte mein Kind zusätzliche Stunden seines Lebens darein investieren, ausserhalb der Schulzeiten Albanisch zu lernen, wenn sein und unser Alltag sowieso schon vollgepackt ist und wir das Albanische schon zuhause sprechen?“ Besser sei es, das Kind würde Englisch, Spanisch oder Chinesisch lernen. Hier sehen wir einen Teufelskreis, der sich um das Thema Sprachprestige dreht: Einerseits hängt eine nicht sehr positive Einstellung gegenüber dem HSK-Unterricht damit zusammen, dass das Potenzial des Albanischen in der Schweiz nicht sichtbar genug gemacht wird, und andererseits wird der nicht genug hohe Marktwert des Albanischen in der Schweiz dadurch nicht gerade erhöht.
Albinfo.ch: Wie können Ihre Forschungsergebnisse dazu beitragen, Vorurteile und Stereotypen abzubauen und die soziale Kohäsion zu stärken?
C.Lucchetti: Daten aus meinen Interviews mit Herkunftssprecherinnen und -sprechern des Albanischen zeigen, dass eine Umstrukturierung des HSK-Unterrichts wünschenswert ist. Es wäre hierzu notwendig, die Frage in den Raum zu stellen, ob eine kantonale oder sogar zentrale Finanzierung und Organisierung des HSK-Unterrichts für Albanisch möglich ist. Dies würde nämlich eine angemessene pädagogische und inhaltliche Qualitätssicherung ermöglichen und dafür sorgen, dass der Besuch des HSK-Unterrichts für eine breitere Anzahl an Menschen zugänglich und attraktiv gemacht wird. Schweizer Institutionen sollten meines Erachtens klarer signalisieren, dass der Erhalt so verbreiteter Herkunftssprachen wie Albanisch, Bosnisch, Kroatisch, Montenegrinisch und Serbisch nicht nur für die Herkunftssprecherinnen und -sprecher selbst, sondern auch für die ganze Gesellschaft unabhängig des sprachlichen und kulturellen Hintergrunds eine Ressource ist.
Wie kann meine Forschung dazu beitragen, Vorurteilen entgegenzuwirken und soziale Kohäsion zu stärken? Das ist die Jackpot-Frage, auf die ich gerne mit den – hier etwas umformulierten – Worten eines Interviewteilnehmers antworten möchte. Das Label „Shqippi“ ist ähnlich wie im Fall von „Jugo“, „Tschingg“ und andere stereotypisierenden Bezeichnungen das Ergebnis von Unwissenheit.
Sobald jemand albanischsprachige Menschen selbst fragt und sie darüber sprechen lässt, wie sie sich in der Schweiz fühlen und sehen, kann ihre Stimme gehört werden. Durch eine Sensibilisierung für die Meinungen und Erfahrungen albanischsprachiger Menschen in der Schweiz kann meine Forschung dazu beitragen, dass diese Unwissenheit nach und nach beseitigt wird, die die Grundlage für strukturelle Benachteiligung und soziale Ungleichheit bildet.
Außerdem zeigt sich in den Interviews, dass die ethnischen Trennlinien, die im Mittelpunkt der Balkankriege standen, in der Diaspora weitestgehend nicht gezogen werden; in der Diaspora kennt die Solidarität zwischen Menschen aus den Ländern des ehemaligen Jugoslawiens meist keine ethnischen Grenzen. Dies zeigt, dass durch Migration und Vielfalt mehr Bereitschaft entstehen kann, sich für das „Andere“ zu interessieren. Auch dies ist eine wichtige gesellschaftliche Ressource.
Albinfo.ch: Welche These verfolgen Sie mit Ihrem aktuellen Forschungsprojekt, und welche Ergebnisse würden Sie erwarten oder andersherum gefragt welche Resultate würden Sie überraschen?
C. Lucchetti: Meine Kernannahme ist, dass das Konzept von Mehrsprachigkeit in der Schweiz auf einer Prestigeskala basiert, innerhalb derer der albanischen Sprache ein niedriger Prestigegrad und Marktwert zugeschrieben werden. Anhand dessen, wie Sprache gesehen wird, wird in Gesellschaften Macht verteilt. Eine weitere Hypothese in meinem Forschungsprojekt ist, dass in der Schweiz die postjugoslawische Diaspora von wichtigen Machtverteilungsprozessen ausgeschlossen und mit Blick auf die Bildungs-, Berufs- und Integrationschancen systematisch benachteiligt wird.
Ich habe vor einigen Wochen angefangen, Interviews mit Menschen durchzuführen, die Albanisch, Bosnisch, Kroatisch, Montenegrinisch und Serbisch als Herkunftssprachen sprechen. Basierend auf den ersten Ergebnissen erwarte ich, dass in der albanischsprachigen Gemeinschaft ein grosses Interesse dafür besteht, dass Albanisch an die nächsten Generationen weitergegeben wird, z.B. damit der Kommunikationsdraht mit Verwandten und Freunden in der Schweiz wie auch im Kosovo, in Nordmazedonien und Albanien weiterhin bestehen bleibt. Hierfür wäre die Einführung von Albanischkursen an Universitäten durchaus wünschenswert; daran arbeiten wir am entstehenden Ost- und Südosteuropainstitut der Universität Zürich als schweizweite Pioniere.
Neben den Interviews habe ich eine Umfrage entwickelt, die ich in den nächsten Wochen verbreiten werde. Sowohl in den Interviews als auch in der Umfrage werden die Teilnehmenden gebeten, einige Sprachen je nach Ansehen in der Schweiz zu ordnen. Überraschen würde es mich hier leider, wenn die Teilnehmenden dem Albanischen oder dem Bosnischen, Kroatischen, Montenegrinischen und Serbischen ein hohes Ansehen beimessen würden. Doch ich bin zuversichtlich, dass Forschung zum Albanischen und zu anderen Herkunftssprachen in der Schweiz dazu beitragen kann, dass die gesellschaftliche Relevanz dieser Sprachen immer ersichtlicher wird.
Link zum Forschungsprojekt: https://www.slav.uzh.ch/de/forschung/sprachwissprojekte/Laufende-Qualifikationsarbeiten/Language-prestige-in-Switzerland.html
E-Mail: [email protected]
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