Albanien jenseits des Meeres

Zeuge der letzten Nomaden des Balkans sein

Alljährlich im Mai und im Juni ziehen 120 Hirten mit 15‘000 Schafen über den Dhëmbel, 220 Kilometer vom äussersten Süden Albaniens bis ins Gramosgebirge …

Jedes Jahr zieht der Dhëmbelpass im Süden Albaniens Hunderte von Bergwanderern aus Westeuropa an. Die elf Kilometer lange Route trennt durch steinige Pfade, Kiefernwälder und Macchia eine der tieforthodoxen Gegenden des Landes von der üppigen Region um den Fluss Vjosa.

Im Juni letzten Jahres erzählte Fadil, bei einem Halt an einem Felsvorsprung, von welchem sich das ganze Tal überblicken liess, wie er damals, als der Kommunismus in Albanien zusammenbrach, nach Griechenland ausgewandert war, um so viel Geld zu verdienen, dass er sich eine eigene Schafherde kaufen konnte.

Fadil ist Hirte und für ihn war jener natürliche Balkon, von welchem aus der Blick über kleine Weiler, Tekken der Bektashi, Minarette und orthodoxe Kirchen und die Bergketten schweifte, die Mitte der Sommerwanderung, einer zweiwöchigen Reise mit 350 Schafen, die im äussersten Süden Albaniens an der Küste des ionischen Meeres beginnt, und zu den Weiden des Gramos (2554 m ü. M.) führt; 220 Kilometer zu Fuss im Süden des Landes. Während vierzig Tagen melken er und sein Cousin Çimi die Schafe jeden Abend, bauen sich Hütten und richten sich einen Schlafplatz ein, stehen um vier Uhr morgens zum Melken auf und bauen die Hütten ab, bringen die Milch unterwegs in die Käsesennerei , und marschieren dann über vierzehn Stunden lang weiter zum nächsten Lagerplatz.

Jahrhunderte alte Routen der Wanderweidewirtschaft

Der Viehtrieb von den Küsten der Adria und des ionischen Meeres ins Landesinnere folgt jahrhundertealten Pfaden der Wanderweidewirtschaft, die die Hirtengesellschaften des Westbalkans betrieben, um den trockenen Landstrichen entlang der Meeresküsten und den rauen Wintern der Almweiden zu entkommen. Es ist eine Lebensweise, die von vielen Bevölkerungen des Mittelmeers praktiziert wird, von den Piemontesern, die den Routen in die padanische Tiefebene oder bei Marseille ins Landesinnere in die Alpen folgten, von den Basken und Asturiern, die das Vieh von den Pyrenäen in die Gironde nach Frankreich oder nach Südspanien trieben, von den Berbern Marokkos, die im Sommer ins Atlasgebirge  hinaufstiegen, oder den Hirten der Abruzzen, die ihre Tiere vom Apennin in die Ebenen Appuliens trieben.

Alljährlich im Mai und im Juni ziehen 120 Hirten mit 15‘000 Schafen über den Dhëmbel, 220 Kilometer vom äussersten Süden Albaniens ins bis Gramosgebirge, und wenn sich Ende November der erste Schnee ankündigt und die Regenfälle an der Küste beginnen, machen sie sich auf den Rückweg in mildere Klimas.

Jetzt machen nicht mehr nur die Hirten diesen Weg…

„Jetzt siehst du die verschiedensten Menschen auf diesem Weg“, sagt Fadil. „Ich sah deutsche Touristen, die den gleichen Weg wie ich machten.“

Die touristisch wertvollen europäischen Landschaften sind ein Produkt der Wanderweidewirtschaft, heisst es in einer Studie der Europäischen Kommission von 2005.

Und in den letzten hundert Jahren gehören die Berge nicht mehr nur den Hirten, erklärt Guillaume Lebaudy, ein Ethnologe, der das Maison du Berger im Dorf Champoléon in den französischen Alpen leitet. „Jetzt teilt sie der Hirte mit der Skifahrerin, dem Alpinisten, der Bergwanderin und seit neuestem mit den Abenteuerfahrern der Geländewagen.“

Die Transhumanz als verbreitete Erscheinung ist in Westeuropa aufgegeben worden; Fertigviehfutter, moderne Stalltechnologien oder Autostrassen haben die Distanzen verkürzt, die einst Monate erforderten und soziale Rituale hervorbrachtendie mit den an die Jahreszeiten gebundenen Weidewanderungen verbunden sind. Heute wird das Vieh auf Lastwagen geladen und die einst mehrwöchigen Reisen benötigen nur einige Stunden.

Die Zerstückelung des Balkans in zahlreiche Staaten hat das Netz der Hirtenwege aus dem Gleichgewicht gebracht

Die Wanderweidewirtschaft ist selten geworden oder fiel der Mechanisierung zum Opfer, wegen der massiven Urbanisierung seit der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts.

Im Balkan wurde das alte Routennetz zuerst durch die Zerstückelung der Halbinsel in Nationalstaaten aus dem Gleichgewicht gebracht. Die Hirten, die von Nordmakedonien nach Thessaloniki in Griechenland zogen, mussten sich an umzäunte, ethnische Territorien anpassen. Jetzt ist das Leben, das einst rund um die Geburten während der Winterung ab Januar, um das Scheren im Februar, und um die Nutzung der tief gelegenen Weiden im Frühling organisiert war, längst Erinnerung. So auch das Fest des Aufzugs in die Bergweiden am Tag nach St. Georg anfangs Mai oder die Vorbereitung der Schafe für die Rückkehr nach St. Demeter Ende Oktober.

Doch eine albanische ethnische Untergruppe, die muslimischen Çamen denen Fadil und Çimi angehören, sind die einzigen, die von ihrer Herkunftsregion um das Städtchen Konispol an der Grenze zu Griechenland die Wanderungen noch zu Fuss machen. Mit dem Fall des Kommunismus nahmen sie den Platz der Vlachen ein, eine Ethnie, die eine romanische Sprache spricht, und die seit Jahrhunderten Hirtenwirtschaft pflegte, sie in den 90er-Jahren des vergangenen Jahrhunderts jedoch aufgab, um nach Griechenland auszuwandern. Und die albanischen Hirten machen die Reise zu Fuss, um die Geschäftskosten tief zu halten.

 

Neubelebung als romantisierte und exotische Aktivität

In Europa gibt es eine Rückkehr zur alten Art und Weise, zu den Fusswanderungen, als romantisierte und exotische Aktivität. Madrid organisiert schon seit 1994 immer am letzten Sonntag im Oktober den Tag der Transhumanz, und lässt zehntausende Schafe durch die Stadt ziehen, um die Wanderungen von den Riojabergen nach Andalusien und in die Estremadura in Erinnerung zu rufen. In Süditalien empfehlen die Handelskammern Wanderungen auf den tratturi, den einstigen Viehtriebsrouten.

Nun versucht Infotravel, eine Gruppe in Tirana, die einheimischen Routen der Transhumanz zu dokumentieren und ebenso mit ihnen zu verfahren, so dass durch das bei den Besuchern geweckte Interesse auch der Erhalt dieser Wirtschaftsweise unterstützt wird.

Wanderweidewirtschaft gefährdet, auch in Albanien

„Die Wanderweidewirtschaft ist hier bedroht durch den Druck der Landwirtschaft und des Massentourismus“, sagt Viola Aliaj, Tourismuspädagogin an der Universität von Durrës. „Nur Wenige vermögen zu erkennen, dass mit ihrem Erhalt eine einheimische Nutzungsform erhalten bleibt, die ein ursprünglicheres Erlebnis des Landes erlaubt und die Tradition lebendig erhält.“

Bei der Vorbereitung der diesjährigen Wanderung reduzierte Fadil die Anzahl Schafe. Ein Teil der Winterweiden in Konispol werden in Mandarinenplantagen umgewandelt. „Doch dies ist nun mal meine Arbeit“, sagt er. „Nur mit ihr kann ich leben.“ Für mehr Informationen über organisierte Reisen auf Routen der Wanderweidewirtschaft in Albanien kontaktieren Sie Viola Aliaj von Infotravel per E-Mail: [email protected].

 

(Übersetzung auf deutsch: Sarah Grettler)