Meinungen
Kosovo, 10 Jahre Unabhängigkeit (Ein paar persönliche Gedanken und Erinnerungen)
Ich wünsche dem Land mehr Politiker und Politikerinnen, die das Wohl der ganzen Gesellschaft im Auge haben, nicht nur das eigene und das ihrer Familie
Den Tag der Unabhängigkeitserklärung von Kosovo, den 17. Februar 2008, erlebte ich nur im Internet, im fernen Afrika, in Tansania. Ich schrieb Gratulationsmails an meine kosovarischen Freundinnen und freute mich an den Fotos jubelnder Kosovo-Albaner und -Albanerinnen. Ich erinnerte mich an meinen ersten Besuch nach dem Ende des Kosovo-Krieges, als die Trauer über die Kriegsopfer und –schäden von euphorischen Freiheitsgefühlen und grosser Zukunftshoffnung überdeckt wurde. „In fünf Jahren wird Kosovo so schön sein wie die Schweiz!“, erklärte mir ein kosovo-albanischer Rückkehrer aus der Schweiz begeistert. In kürzester Zeit wurden Häuser wieder aufgebaut, Strassen notdürftig wieder hergestellt, die Läden mit den nötigsten Waren gefüllt. Vor der mazedonischen Grenze zu Kosovo warteten die Lastwagen in langen Schlange, um Baumaterial und vieles andere ins zerstörte Land – damals noch Provinz – zu bringen. Hilfswerkmitarbeitende aus dem Ausland wunderten sich, wie schnell viele Menschen ohne ihre Hilfe Häuser wieder aufbauten: Wer Verwandte im Ausland hatte – und wer in Kosovo hat dies nicht – mochte nicht die langen Prozeduren der Hilfsorganisationen abwarten und baute selbst mit der grosszügigen Unterstützung der Verwandten.
Dieser Elan, dieser Mut und diese Zukunftshoffnung, wo sind sie geblieben?
Sie zeigten sich wieder nach der Erklärung der Unabhängigkeit. Nun wirklich eine eigene Regierung zu haben, nicht mehr von internationalen Beamten der UNMIK bevormundet zu sein, liess das Volk wieder neu hoffen. Doch den Weg der Demokratie zu lernen und zu gehen ist ein viel schwierigeres und langwierigeres Unterfangen als von vielen erwartet und erhofft wurde.
Wie in anderen Ländern, wo junge Freiheitskämpfer die Unabhängigkeit für ihr Land erkämpft hatten, glaubte sich manch einer von ihnen nach dem Sieg berechtigt, sich seinen Lohn in Form von Macht und Geld zu holen. Und mehr als Eignung und das nötige Rüstzeug für einen guten Posten zählten oft Beziehungen.
Ein Staat musste von Grund auf neu aufgebaut werden – eine Herkulesarbeit.
Wo steht Kosovo nach 10 Jahren Unabhängigkeit?
Die Bilanz ist durchzogen, in den Augen mancher Bürger und Bürgerinnen gar negativ. Ich höre Klagen über die grosse Arbeitslosigkeit, über Korruption, über Rechtsunsicherheit, über zu langsames wirtschaftliches Wachstum. Kosovo wartet weiter auf die Visa-Freiheit, auf die Anerkennung durch fünf EU-Staaten und weitere Länder, nicht zuletzt Serbiens, das Kosovo viele Hindernisse in den Weg legt.
Hier und dort liest man in ausländischen Medien bereits von „failed state“, ein gescheiterter Staat. – Und doch, der Lebensalltag in Kosovo sagt etwas anderes. Blicke ich zurück auf die ersten Jahre nach dem Krieg, sehe ich im Vergleich dazu heute ein Land, in dem trotz allem vieles funktioniert, ein Land das lebendig und aktiv wirkt. Es ist ein Land mit einem grossen Potential an Menschen und Ressourcen, einem Potential das – so hoffe ich – bald besser eingesetzt wird als bisher. Ich wünsche dem Land eine stärkere Zivilgesellschaft, die wo nötig korrigierend eingreift, und ich wünsche ihm mehr Politiker und Politikerinnen, die das Wohl der ganzen Gesellschaft im Auge haben, nicht nur das eigene und das ihrer Familie. Und von der Staatengemeinschaft wünsche ich mir, dass sie Kosovo echt und nachhaltig unterstützt und dem Land bei der Beseitigung von wirtschaftlichen und politischen Hürden hilft.
Zu meiner Person: Elisabeth Kaestli bereist die Region als Journalistin und Buchautorin seit 1998. Von 2010 bis Ende 2016 lebte sie in Pristina, seither in Tramelan BE.
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